Der Winterschmied
zumindest menschlich aussehende. Tiffany konnte sie nur undeutlich erkennen, und das war vielleicht auch besser so.
Sie glaubte zu spüren, wie es kälter wurde. Raureif bildete sich auf den Blättern.
Das Getrommel ging weiter. Tiffany hatte den Eindruck, dass jetzt noch etwas hinzukam - andere Taktschläge und Echos in ihrem Kopf.
Fräulein Verrat konnte noch so oft Pst! sagen - es war ein Moriskentanz. Aber er fand nicht zur richtigen Zeit statt!
Die Moriskenmänner kamen irgendwann im Mai ins Dorf. Man konnte nie ganz sicher sein, wann sie kamen, denn sie besuchten viele Dörfer im Kreideland, und in jedem Dorf gab es ein Wirtshaus, was sie langsamer vorankommen ließ.
Sie hatten Stöcke und trugen weiße Kleidung mit kleinen Glocken, die verhinderten, dass sie sich an jemanden heranschleichen konnten. Niemand mag es, wenn plötzlich ein Moriskentänzer vor ihm steht. Wenn sie auftauchten, wartete Tiffany außerhalb des Dorfes und folgte ihnen zusammen mit den anderen Kindern tanzend hinein.
Und dann tanzten die Moriskenmänner auf dem Dorfplatz zum Rhythmus einer Trommel und schlugen ihre Stöcke in der Luft gegeneinander, und dann gingen alle ins Wirtshaus, und der Sommer kam.
Tiffany hatte bislang nicht herausbekommen, wie Letzteres funktionierte. Die Tänzer tanzten, und dann kam der Sommer - mehr schien niemand zu wissen. Ihr Vater hatte von einem Jahr erzählt, in dem die Moriskentänzer nicht erschienen waren, von einem Jahr, in dem ein kalter, feuchter Frühling in einen kalten Herbst überging, und die Monate dazwischen hatten Nebel, Regen und schon im August Frost gebracht.
Das Wummern der Trommeln erfüllte Tiffanys Kopf und machte sie schwindelig. Etwas daran stimmte nicht; irgendwas ging nicht mit rechten Dingen zu...
Und dann erinnerte sie sich an den siebten Tänzer, »Narr« genannt. Meistens war es ein recht kleiner Mann, der einen verbeulten Zylinder trug und an die Kleidung genähte bunte Fetzen. Normalerweise ging er mit dem Hut
herum und grinste die Leute an, bis sie ihm Geld für Bier gaben. Aber manchmal legte er den Hut beiseite und gesellte sich zu den Tänzern. Man erwartete eine heftige Kollision von Armen und Beinen, aber dazu kam es nie. Der kleine Mann hüpfte und drehte sich inmitten der schwitzenden Tänzer und schaffte es immer, dort zu sein, wo sie nicht waren.
Die Welt um Tiffany geriet aus den Fugen. Sie blinzelte. Das Trommeln in ihrem Kopf war inzwischen so laut wie Donnerhall und so tief wie der Ozean. Fräulein Verrat war vergessen. Ebenso das seltsame, geheimnisvolle Schattenpublikum. Es gab nur noch den Tanz.
Er wirbelte durch die Luft wie etwas Lebendiges. Doch in seinem Innern bewegte sich ein freier Platz immer im Kreis herum. Tiffany wusste, dass das ihr Platz war. Fräulein Verrat hatte es ihr verboten, aber das war vor einer ganzen Weile gewesen, und wie sollte sie sie auch verstehen? Was wusste sie schon? Wann hatte sie zum letzten Mal getanzt? Der Tanz hatte Tiffanys Körper erobert, und er rief nach ihr. Sechs Tänzer reichten nicht aus!
Sie lief los und stürzte sich mitten hinein.
Die Augen der Männer starrten sie an, als sie ausgelassen zwischen ihnen herumtanzte, immer genau dort, wo sie nicht waren. Die Trommeln regierten ihre Füße und lenkten ihre Schritte.
Und dann...
... war noch jemand anders da...
Es war so ähnlich, als stünde jemand hinter ihr. Doch gleichzeitig schien auch noch jemand vor ihr, neben ihr, über und unter ihr zu sein.
Die Tänzer erstarrten, doch die Welt drehte sich weiter. Die Männer waren nur schwarze Schatten, dunklere Konturen in der Dunkelheit. Die Trommelschläge verstummten, und es folgte ein langer Moment, in dem sich Tiffany langsam und schweigend drehte, die Arme ausgestreckt, die Füße knapp über dem Boden in der Luft schwebend, das Gesicht den Sternen zugewandt, die kalt wie Eis und spitz wie Nadeln waren. Es war ein... wundervolles Gefühl.
»Wer bist du?«, fragte jemand. Die Stimme hatte ein Echo, oder vielleicht hatten auch zwei Personen die Worte fast zur gleichen Zeit gesprochen.
Der Trommelschlag kehrte plötzlich zurück, und sechs Männer prallten mit ihr zusammen.
Einige Stunden später, in dem kleinen Ort Hundekrumm unten in der Ebene, warfen die Bürger eine an Armen und Beinen gefesselte Hexe in den Fluss.
In den Bergen geschah so etwas nie, denn dort respektierte man Hexen. Aber unten in der weiten Ebene gab es immer noch dumme Leute, die die scheußlicheren Geschichten
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