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Der Wissenschaftswahn

Der Wissenschaftswahn

Titel: Der Wissenschaftswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Sheldrake
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der unendlichen Weite des Raums und der Zeit, ja sogar von unzähligen Universen außerhalb des unseren. Anders als die Religion mit ihren endlosen Konflikten und Disputen vermittelt die Wissenschaft ein echtes Verständnis der materiellen Natur, der einzigen Realität, die es überhaupt gibt. Naturwissenschaftler bilden eine Priesterschaft, die jeder religiösen Priesterschaft überlegen ist, weil es dort doch nur darum geht, die Unwissenheit und Angst der Menschen auszunutzen, um das eigene Prestige zu steigern und die eigene Macht zu erhalten. Naturwissenschaftler sind die Speerspitze des Fortschritts, sie führen die Menschheit weiter und höher hinauf in eine bessere und schönere Welt.
    Die meisten Wissenschaftler sind sich der Mythen, der Symbolik, der Annahmen nicht bewusst, denen sie ihre gesellschaftliche Rolle und politische Macht verdanken. Da geht es um implizite, unausgesprochene Glaubenssätze, deren Macht darin liegt, dass sie zur Gewohnheit geworden sind. Wenn sie unbewusst sind, können sie nicht in Frage gestellt werden, und da sie kollektiven Charakters sind, das heißt vom größten Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilt werden, gibt es zudem keinen Anreiz, sie in Frage zu stellen.
    Ich habe in diesem Buch aufgezeigt, dass die materialistische Philosophie oder »das naturwissenschaftliche Weltbild« nicht die unbestreitbare objektive Wahrheit erfasst. Es handelt sich um ein durchaus anfechtbares Glaubenssystem, über das die Naturwissenschaften selbst bereits hinausgewachsen sind. In diesem Kapitel soll es um den Mythos der »körperlosen« Erkenntnis und die wissenschaftliche Objektivität gehen, um den offensichtlichen Konflikt dieses Mythos mit der schlichten Tatsache, dass Wissenschaftler Menschen sind. Naturwissenschaft wird von Menschen betrieben. Wenn man den Naturwissenschaften eine sonst nirgendwo gegebene Objektivität zuschreibt, stellt das die Wissenschaftler nicht nur öffentlich in ein falsches Licht, sondern formt auch ihre Selbstwahrnehmung. Das Trugbild der Objektivität öffnet der Täuschung und Selbsttäuschung Tür und Tor. Es untergräbt das hohe Ideal der Wahrheitssuche.

Schamanische Reisen und körperloser Geist
    Die Überzeugungskraft der Naturwissenschaft lag von Anfang an nicht allein in ihren quantitativen Berechnungen, in Rationalität und Macht, sondern auch in ihrem Appell an die Phantasie. Das wird nirgendwo deutlicher als in einem 1609 von Johannes Kepler veröffentlichten Buch mit dem Titel
Somnium sive astronomia lunaris (Der Traum, oder: Mond-Astronomie)
. In diesem Buch, so erklärt er, geht es darum, »vom Beispiel des Mondes her eine Darstellungsweise für die Bewegung der Erde zu finden«. [547]
    Eine große Schwierigkeit lag für Kepler und andere Verfechter des heliozentrischen, das heißt des kopernikanischen Weltbilds darin, dass wir die Bewegung der Erde um die Sonne nicht direkt nachvollziehen können: Die Erde fühlt sich für uns fest an, und die Sonne scheint sich auf einer Kreisbahn um die Erde zu bewegen.
    In seinem Traumbuch schildert Kepler eine Reise zum Mond und erklärt, wie sich das Universum ausnimmt, wenn man es von dort aus betrachtet. Der Mond »scheint für seine Bewohner stillzustehen, während sich die Sterne um ihn drehen, wie auch die Erde für uns stillzustehen scheint«. [548] Sein Raumfahrer sah die Erde im Raum schweben und sich um ihre eigene Achse drehen. Durch die vorgestellte Mondreise machte Kepler die neue Astronomie anschaulich. Konkret wurde diese Ansicht im Globus. Wer im Geographieunterricht einen Globus betrachtet, hat damit einen Blick von außen auf die Erde. Realität wurde das freilich erst mit der bemannten Raumfahrt, aber die Vorstellung von diesem Blick auf die Erde von außen war weitaus älter als die kopernikanische Wende. Bereits im dritten vorchristlichen Jahrhundert waren griechische Astronomen zu dem Schluss gelangt, die Erde müsse rund sein – sie bauten sogar Globen. [549] Das Neue an Keplers Vision war nicht die Außenansicht der Erde, sondern ihre Rotation.
    Keplers Raumfahrt fand im Traum statt, und sein Astronaut war ein körperloser Geist, der sich durch bloße Willenskraft dorthin versetzen konnte, allerdings in Begleitung von Menschen, die es gewohnt waren zu fliegen, insbesondere »dürre alte Weiber, die von Kindesbeinen an des Nachts in ihren Lumpen und mal auf Ziegen, mal auf Mistgabeln weite Strecken auf der Erde zurückzulegen pflegten«. [550] Der Erzähler in Keplers

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