Der Wissenschaftswahn
allein in den Vereinigten Staaten – werden sich den Berechnungen nach bis 2020 verdoppeln. [530]
Ein ähnliches Umdenken findet auch in anderen Ländern statt. Die britische Regierung veröffentlichte 2010 einen offiziellen Bericht zur Gesundheitspolitik, ein Weißbuch mit dem Titel
Healthy Lives, Healthy People,
in dem es vorrangig um gesellschaftliche Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit geht. Wie in den Vereinigten Staaten stehen auch hier wirtschaftliche Erwägungen im Vordergrund, vor allem im Hinblick auf die scheinbar freiwillgen Aspekte von Gesundheit und Krankheit. Andrew Lansley, der Gesundheitsminister, schreibt im Vorwort:
Wir müssen beherzt vorgehen, viele der durch unsere Lebensweise bedingten Gesundheitsprobleme, die wir heute sehen, haben einen besorgniserregenden Stand erreicht. Übergewicht ist in keinem anderen europäischen Land so weit verbreitet wie in Großbritannien. Bei den durch sexuellen Kontakt übertragenen Krankheiten liegen wir weit vorn, ein relativ hoher Anteil der Bevölkerung nimmt Drogen, und durch Alkohol verursachte Schäden nehmen zu. Das Rauchen kostet allein 80000 Menschenleben jedes Jahr. Nach Schätzungen der Fachleute könnte die gesamte Krankheitslast um knapp ein Viertel reduziert werden, wenn wir uns entschlossener um die seelische Gesundheit kümmern würden … Wir brauchen Ansätze, die dem Einzelnen Anstöße zu gesünderen Entscheidungen geben. [531]
Wenn sich einflussreiche Administratoren und Minister für radikale Reformen aussprechen, zeugt das von einem generellen Wandel im Gesundheitsdenken, für die Abkehr von der ausschließlichen Ausrichtung auf Medikamente und Operation zugunsten eines gesellschaftlichen Modells, das die Verhaltensweisen und Beweggründe der Menschen berücksichtigt, das aber auch Faktoren der Motivation und wirtschaftliche Aspekte einbezieht, die außerhalb des Horizonts der herkömmlichen mechanistischen Medizin liegen.
»Evidenzbasierte« Medizin und vergleichende Wirksamkeitsforschung
Vielfach wird davon ausgegangen, dass randomisierte und placebokontrollierte Doppelblindstudien die einzig wissenschaftlich stichhaltige Form der klinischen Überprüfung seien, der »Goldstandard« der empirischen Methodik. Solche Tests sind tatsächlich nützlich, wenn es darum geht, die Wirkung einer Behandlungsform gegen die Wirkung von Placebo abzugrenzen, aber sie gibt Patienten und Gesundheitseinrichtungen in vielen Fällen nicht die Information, die sie benötigen. Wenn ich beispielsweise an Kreuzschmerzen leide, will ich nicht unbedingt wissen, ob Medikament X in solchen Fällen besser als ein Placebo wirkt; mich interessiert vielmehr, welchen der verfügbaren schulmedizinischen und alternativen Therapieansätze ich wählen soll: Physiotherapie oder von meinem Hausarzt verschriebene Medikamente oder Akupunktur oder Osteopathie oder noch eine andere Therapieform.
Zu einer Antwort kommt man hier am besten dadurch, dass man – so fair wie möglich und unter möglichst gleichen Bedingungen – vergleicht, was für Ergebnisse die verschiedenen Behandlungsformen vorzuweisen haben. Die relevante Frage ist ganz pragmatisch: Was hilft? Man könnte beispielsweise gleich große Gruppen von Patienten mit Kreuzschmerzen nach dem Zufallsprinzip verschiedenen Behandlungsformen zuweisen, die bei solchen Beschwerden Besserung versprechen, zum Beispiel Physiotherapie, Chiropraktik, Osteopathie und Akupunktur. Als Vergleichsgruppe könnten Leute dienen, die auf eine Warteliste gesetzt und erst einmal nicht behandelt werden. Für jede Gruppe könnten mehrere Therapeuten zuständig sein, so dass man am Ende nicht nur die Methoden vergleichen kann, sondern auch etwas über die Unterschiede zwischen verschiedenen Anwendern ein und derselben Methode weiß.
Die Einstufung der Ergebnisse würde man nach einem für alle Patienten gleichen Verfahren in regelmäßigen Intervallen nach den Behandlungen vornehmen. Die angestrebten Ziele würde man vorher im Gespräch mit den beteiligten Therapeuten festlegen. Die anschließende statistische Auswertung der Daten sollte erkennen lassen,
welche Behandlung am besten anschlug, sofern überhaupt Wirkungen zu erkennen sind;
bei welchen Behandlungsmethoden die größten Unterschiede zwischen den Anwendern auftraten; und
welche Methoden besonders kostengünstig waren.
Solche Erkenntnisse wären nicht nur für die Patienten sehr nützlich, sondern auch für die Kostenträger, also die gesetzlichen und privaten
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