Der Wissenschaftswahn
…« Sie beobachteten, so scheint es, nie selbst etwas, sondern schrieben: »Es war zu beobachten, dass …« Sie dachten nicht einmal selbst über ihre Resultate nach, sondern schrieben: »Es wurde erwogen, dass …«
Damals glaubten die Materialisten, die Physik werde ein klares Bild der Materie erarbeiten können, in dem überhaupt nicht mehr von Geist die Rede sein müsse, doch die in den zwanziger Jahren beginnende Entwicklung der Quantentheorie machte einen Strich durch diese Rechnung. Zu Beobachtungen gehören Beobachter, und die Anlage eines Experiments bestimmt bereits bis zu einem gewissen Grad, was dabei herauskommen wird. Eigentlich ist das offensichtlich, aber bis zur Entwicklung der Quantentheorie haben die Physiker immer so getan, als wären sie an ihren eigenen Experimenten nicht beteiligt. Der Physiker Bernard d’Espagnat schrieb 1976 über die Physik im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert:
Die Physiker glaubten … sie könnten ihre Wissenschaft formulieren, ohne den Bewusstseinszustand der Beobachter auch nur implizit berücksichtigen zu müssen. Es war nur natürlich, dass die Denker jener Zeit eine so definierte Materie als die ursprüngliche und einzige Realität ansahen. Heute liegen die Dinge völlig anders … Die Prinzipien der Physik haben selbst eine Evolution durchgemacht und lassen sich nicht einmal mehr formulieren, ohne einen (wenn auch in manchen Fällen impliziten) Bezug zu den Eindrücken und folglich zum Geist der Beobachter herzustellen. In der Folge wird sich der Materialismus zwangsläufig ändern. [554]
Physiker und andere Naturwissenschaftler blieben jedoch beim Passiv in ihren wissenschaftlichen Arbeiten. Die Dinge ändern sich jetzt, wie ich weiter unten erläutern werde, aber in der allgemeinen Vorstellung von Wissenschaft und über weite Strecken der naturwissenschaftlichen Ausbildung herrscht das Passiv noch vor, um die Illusion der körperlosen Objektivität aufrechtzuerhalten.
Das Höhlengleichnis
In Platons berühmtem Höhlengleichnis (siehe Kapitel 3 ) sind Gefangene so am Boden der Höhle angekettet, dass sie nur die Schatten der Dinge auf der Höhlenwand sehen, die vor einer unsichtbar hinter ihnen liegenden Lichtquelle vorbeiziehen. Sie bilden sich Meinungen, verfallen auf Trugschlüsse, streiten sich. Der Philosoph ist wie jemand, der sich losreißt und aus dieser Situation befreit, so dass er die Realität sieht, wie sie wirklich ist.
Wie der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour in seinem 1999 erschienenen Buch
Politiques de la nature (Das Parlament der Dinge)
aufzeigt, ist dieses Gleichnis im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften zu neuem Leben erwacht. Platon deutete mit seinem Höhlengleichnis die Notwendigkeit einer Reise an, die aus dem Reich der Körperlichkeit und der Sinne ins Reich der immateriellen Ideen führt. Dieser Sinngehalt hat in der Neuzeit eine ganz andere Wendung bekommen. Für Materialisten ist etwas völlig anderes als das Reich der Ideen zur objektiven Realität geworden, nämlich die mathematisch erfasste Materie. So sind es in der modernen Fassung dieses Gleichnisses allein die Naturwissenschaftler, die vor die Höhle treten und die Realität sehen, wie sie ist, um dann in die Höhle zurückzukehren und dem unwissenden und zerstrittenen Rest der Menschheit etwas von ihren Erkenntnissen mitzuteilen. Nur Naturwissenschaftler erkennen die Realität und die Wahrheit. »Der Philosoph und später der Naturwissenschaftler müssen sich von der Tyrannei des Sozialen, des öffentlichen Lebens, der Politik, des subjektiven Empfindens und der Agitation befreien – oder eben die Höhle verlassen –, wenn sie der Wahrheit teilhaftig werden möchten.« Die übrige Menschheit in ihrer Höhle weiß unterdessen nichts Besseres, als bei ihrem Multikulturalismus, ihren Konflikten und ihrer Politik zu bleiben.
Latour weiter:
Das Höhlengleichnis eignet sich sehr schön, um – gleichsam mit demselben Pinselstrich – ein Bild der Wissenschaft und ein Bild des sozialen Bereichs zu malen … Die Gegensätze, so stellt sich heraus, sind in ein und derselben heroischen Gestalt vereinigt, nämlich im Philosophen-Wissenschaftler, der als Gesetzgeber und zugleich als Erlöser auftritt. Zwar ist die Welt der Wahrheit eine absolut und nicht relativ andere als die Welt des Sozialen, doch dem Naturwissenschaftler ist es unter allen Umständen möglich, zwischen den beiden Welten hin und her zu gehen: Der Verbindungsweg, allen anderen verschlossen, steht
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