Der Wissenschaftswahn
Krankenversicherungen. Ähnliche unter vergleichbaren Bedingungen durchgeführte Untersuchungen ließen sich auch für viele andere verbreitete Beschwerden anwenden, zum Beispiel Migräne und Lippenbläschen (Herpes). Solche Untersuchungen, man spricht hier manchmal von vergleichender Wirksamkeitsforschung, wären relativ einfach und kostengünstig durchzuführen.
Nehmen wir an, Homöopathie habe sich als wirksamste Behandlungsform bei
Herpes labialis
oder Lippenbläschen erwiesen. Skeptiker würden vielleicht sagen, das sei dem Umstand zuzuschreiben, dass Homöopathie einen stärkeren Placeboeffekt produziere als andere Behandlungsformen. Aber sollte es wirklich so sein, dann wäre das eher ein Vorteil als ein Nachteil. Im Endeffekt und warum auch immer würde man sagen müssen, dass Homöopathie wirkt und wahrscheinlich auch noch billiger ist.
Solche Wirkungsforschung wird in der Medizin bereits ansatzweise betrieben, vor allem bei seelischen Störungen wie Depression und Schizophrenie. Viele Psychiater und die Hersteller von Arzneimitteln vertreten die Ansicht, moderne Medikamente gegen Depressionen und Psychosen »heilten« chemische Entgleisungen im Gehirn, doch andere halten dagegen, eigentlich handle es sich bei solchen Medikamenten um psychoaktive Drogen: Sie verändern den Gemütszustand, indem sie Gefühle und die intellektuelle Aktivität dämpfen. [537] Diese Mittel sind nützlich, aber eben keine chemischen Heilmittel. Psychotherapie, in Verbindung mit Medikamenten oder für sich allein, ist von länger anhaltender Wirkung. Es gibt inzwischen Hunderte von Wirksamkeitsstudien zur psychotherapeutischen Behandlung von Depressionen im Vergleich mit der medikamentösen Behandlung, und die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache:
Psychotherapie schlägt bei der Behandlung von Depressionen an und erbringt eine deutliche Besserung. Im direkten Vergleich der kurzfristigen Wirkungen von Psychotherapie und Psychopharmaka schneidet die Psychotherapie genauso gut ab wie die medikamentöse Behandlung, und zwar unabhängig vom anfänglichen Schweregrad der Depression … Noch besser steht die Psychotherapie da, wenn man die Langzeiterfolge betrachtet. Ehemals depressive Patienten erleiden nach einer Behandlung mit Antidepressiva viermal so häufig Rückfälle wie nach einer Psychotherapie. [538]
Solche sehr wichtigen Aussagen wären ohne vergleichende Wirksamkeitseinschätzung verschiedener Therapieformen nicht möglich. Sie würden sich niemals aus Untersuchungen ergeben, die sich auf placebokontrollierte Medikamententests beschränken.
Scheuklappen und das fast ausschließliche Starren auf chemische und chirurgische Methoden sind eines der großen Probleme der mechanistischen Medizin. Seit Jahrzehnten prägt das materialistische Weltbild den medizinischen Lehrbetrieb an den Universitäten, sorgt für einseitige Etatzuweisungen in der medizinischen Forschung, färbt die Gesundheitspolitik ebenso wie das Kalkül der Versicherungen. Und immer teurer wird die Medizin dabei auch noch.
Vergleichende Wirksamkeitsforschung könnte zu einer wahrhaft evidenzbasierten, das heißt nachweislich wirksamen Medizin führen, in der auch Therapieformen einen Platz bekämen, die sich nicht dem materialistischen Glauben einfügen.
Was könnte daraus folgen?
Gegenwärtig haben wir einen staatlich bezuschussten und gelenkten Medizinbetrieb, der teuer und restriktiv ist und stark von mächtigen Pharmafirmen beeinflusst wird, denen es in erster Linie um möglichst große Gewinne geht. Dieses System hat wirklich große Erfolge vorzuweisen, aber die Fortschritte wurden größtenteils in der Zeit vor 1980 erzielt. Die Innovationsrate ist rückläufig, und die Versprechen der genetischen Medizin und Biotechnologie erfüllen sich nicht. Zugleich steigen die Kosten für Behandlung und Forschung.
Würde man das vom Staat gedeckte Monopol des Materialismus lockern, könnte sich die naturwissenschaftliche und medizinische Forschung auch der Frage widmen, welche Rolle Überzeugung, Glaube, Hoffnungen, Ängste und gesellschaftliche Faktoren für Gesundheit und Heilung spielen. Man könnte Wirksamkeitsvergleiche verschiedener Therapieansätze anstellen, und die Menschen hätten die Freiheit, mit der Unterstützung durch sachkundige Ratgeber die Behandlungsform zu wählen, die in ihrem Fall am ehesten Erfolg verspricht. Auch Diäten, Bewegungsformen und präventive medizinische Maßnahmen würde man auf ihre Wirksamkeit hin untersuchen.
Weitere Kostenlose Bücher