Der Wissenschaftswahn
Geschichte wird dem reisenden Geist von einer weisen alten Frau vorgestellt, die an den Hängen des Vulkans Hekla auf Island Kräuter sammelte. Von dort aus brachen die Mondreisenden während einer Mondfinsternis auf, damit sie sich im Schatten der Erde halten und die sengenden Strahlen der Sonne meiden konnten.
Die Geschichte brachte für Kepler eine Menge Ärger mit sich. Hexerei war in seiner Zeit eine sehr ernste Angelegenheit. Allgemein wurde von Hexen angenommen, sie könnten fliegen, und genau das bewog Kepler, sie für einen, wie er hoffte, überzeugenden literarischen Kniff zu verwenden. In Keplers schwäbischem Heimatort Leonberg waren eben erst etliche Frauen wegen Hexerei verbrannt worden, als Einzelheiten aus Keplers noch unveröffentlichtem Traumbuch ruchbar wurden. Man bezichtigte seine Mutter der Hexerei, sie wurde eingesperrt und gefoltert, und Kepler musste jahrelang kämpfen, um sie vor der Hinrichtung zu bewahren und schließlich ihre Freilassung zu erwirken. [551]
Die Idee des körperlosen Geistes wurde bald zu einer zentralen Vorstellung der mechanistischen Naturwissenschaft. Descartes schloss aus seiner berühmten Setzung »Ich denke, also bin ich«, dass dieser denkende Geist körperlos sein müsse:
Hieraus erkannte ich, dass ich eine Substanz war, deren ganze Natur oder Wesen nur im Denken besteht und die zu ihrem Bestand weder eines Ortes noch einer körperlichen Sache bedarf; in der Weise, dass dieses Ich, das heißt die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, vom Körper ganz verschieden und selbst leichter als dieser zu erkennen ist; ja selbst wenn dieser nicht wäre, würde die Seele nicht aufhören, das zu sein, was sie ist. [552]
Sein Geist war gottähnlich und unsterblich. Vernunft ließ ihn die Gesetze der Natur erkennen, und er hatte teil am mathematischen Geist Gottes. Sein Körper dagegen war materieller Natur und wie alles Materielle mechanisch und ohne Bewusstsein.
Wenn Geist körperlos ist, muss das auch für den Geist des Naturwissenschaftlers gelten, und dann ist Naturwissenschaft so etwas wie ein Blick auf die Realität von nirgendwoher. Das hat Stephen Hawking zu einer Art Ikone werden lassen. Durch seine Krankheit ist er dem Zustand des körperlosen Geistes so nahe, wie man als Mensch sein kann. So auch das Zitat aus dem Magazin
Time
, das den Umschlag der 1988 erschienenen Originalausgabe seines Buchs
Eine kurze Geschichte der Zeit
ziert: »Mag er auch an den Rollstuhl gefesselt und hilflos sein, umso leichter scheint sein brillanter Geist die Unendlichkeit von Raum und Zeit zu durchmessen, um den Geheimnissen des Universums auf die Spur zu kommen.« Unwillkürlich fällt uns dazu auch die visionäre Reise des Schamanen ein, dessen Geist in Tiergestalt die Unterwelt aufzusuchen oder sich als Vogel zum Himmel aufzuschwingen vermag. So projiziert sich auch der Geist des Wissenschaftlers weit ins Weltall hinaus, und von dort aus betrachtet er die Erde, das Sonnensystem, unsere Heimatgalaxie, ja das gesamte Universum wie von außen. Er kann auch die Gegenrichtung ins Reich des sehr Kleinen einschlagen und der Materie bis in ihre letzten subatomaren Winkel nachspüren.
Gedankenexperimente haben in der Naturwissenschaft schon immer eine große Rolle gespielt, denken wir nur an Einstein und seine Vorstellung, neben einer Lichtwelle herzulaufen. Ihm ging auf, dass sich Licht aus der Perspektive eines mit Lichtgeschwindigkeit reisenden körperlosen Geistes nicht bewegt und dass keine Zeit vergeht. Diese Szene, die er erstmals 1896 mit sechzehn Jahren vor sich sah, ließ ihn über Jahre nicht mehr los und spielte eine wichtige Rolle für die Entwicklung seiner Relativitätstheorie. [553]
Nur wenige außergewöhnliche Naturwissenschaftler vermochten ihre Phantasie so wie Kepler und Einstein einzusetzen, aber das Ideal der körperlosen, objektiven Erkenntnis ist eben das, was die Naturwissenschaft von anderen Formen menschlichen Forschens abhebt. Um diesen Sonderstatus herauszukehren, haben die Naturwissenschaftler sogar einen besonderen Schreibstil entwickelt, der sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute und auch heute noch in vielen wissenschaftlichen Arbeiten anzutreffen ist. Sie machten ausgiebig vom Passiv Gebrauch, um sich als körper- und leidenschaftslose Beobachter darzustellen, denen sich die Dinge gleichsam aus freien Stücken offenbaren. Statt »Ich füllte ein Reagenzglas« sagten sie lieber: »Ein Reagenzglas wurde gefüllt
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