Der Wolf
lebensmüde.« Dieser alte Mann trug eine marineblaue Baseballkappe mit dem Namen der USS Oriskany darauf, eines im Vietnamkrieg eingesetzten Flugzeugträgers, der später als künstliches Riff im Meer versenkt worden war. Der Schirm der Kappe war ausgefranst, und der Blick des Bösen Wolfs fiel auf die vernarbten, knorrigen Hände des Mannes, die an eine alte Eiche erinnerten.
»Ich wette, die finden nix«, wiederholte der andere. »Die vergeuden da unten nur unsere Steuergelder. Kaufen diese teure Taucherausrüstung, für die sie kaum je Verwendung haben.«
»Die geben sowieso jeden Moment auf«, sagte Baseballkappe Filzhut voraus.
Der Böse Wolf beschloss, weiter zuzusehen, auch wenn er dem Skeptiker recht gab.
Die finden sowieso nichts.
Vielleicht, fügte er hinzu, weil es da nichts zu finden gibt.
Er konnte sich nicht sicher sein, was ihm mächtig zu schaffen machte. Er wusste, dass bei Mord nichts so sehr zählte wie Gewissheit. Jede kleine Einzelheit sowie ein präzises Urteil waren von unschätzbarem Wert. Manchmal betrachtete er sich als einen Buchhalter im Töten. In solchen Momenten war es von entscheidender Bedeutung, dass einem nichts entging – wie eine Steuererklärung in mörderischer Währung.
Vielleicht hab ich sie ja getötet, überlegte er. Allein der Druck, den ich ausgeübt habe, kann jemanden in den Selbstmord treiben.
Würdest du, wenn du weißt, dass du in nächster Zukunft ermordet wirst, deinem Leben nicht lieber selbst ein Ende setzen?
Jedenfalls war es eine nachvollziehbare Reaktion. Er dachte an Gefangene, die auf ihre Exekution warten und sich vorher in ihrer Zelle erhängen, oder auch Leute, bei denen eine tödliche Krankheit diagnostiziert wird. Ihm kamen die Finanzmakler und Büroangestellten in den Sinn, die am 11 . September in ihrer aussichtslosen Lage von den Zwillingstürmen gesprungen waren.
Zu wissen, dass man umkommt, aber nicht zu wissen, wann genau und wie, kann unendlich viel schlimmer sein als die Qual eines Selbstmords.
Außerdem wusste er, dass Rote Zwei unter den drei Roten die schwächste war. Wenn sie sich in den Fluss gestürzt hatte, war das streng genommen fast so gut, als hätte er sie mit eigenen Händen erwürgt. Einen Moment lang spürte er, wie sich seine Finger anspannten, als lege er sie Rote Zwei um den Hals und sie ersticke langsam unter ihm. Auf jeden Fall eine Kerbe an der Kanone wert, dachte er in der Manier eines Revolverhelden im Wilden Westen.
Der Tod ist wie die Wahrheit. Er beantwortet Fragen.
Den Gedanken merkte er sich für sein nächstes Kapitel vor. Vielleicht konnte er ihren Tod mit vollem Recht für sich verbuchen. Diese Möglichkeit kam tatsächlich in Betracht, vielleicht war seine erste Wut unbegründet.
Die Leser werden davon fasziniert sein, dass ich jemanden in den Freitod treiben konnte. Das wird sie schockieren – genau wie all diese Leute auf der Brücke langsamer fahren, weil sie sich einen Blick auf etwas Schreckliches erhoffen, werden die Leser sehen wollen, was als Nächstes passiert. Umso mehr werden sie von da an um Rote Eins und Rote Drei bangen. Und schließlich wird es für mich – mit einer Station weniger auf dem Weg zum Tod – ein bisschen leichter, die letzten Tage für die anderen beiden Roten zu meistern.
Wie ein Journalist, der für einen Artikel, den er bald abliefern muss, Material zusammenstellt, blickte der Böse Wolf sich um. Er sah die Polizisten, die im Fluss arbeiteten, er zählte die Leute, die von der Brücke aus zuschauten, und registrierte das Nachrichtenteam, das seine Kameras und Mikrofone zusammenpackte, um zu einem wichtigeren, spektakuläreren Ereignis weiterzuziehen. Der Böse Wolf schmunzelte. Auch wenn sie es nicht wissen, dachte er, ist das hier die beste Story, die sie kriegen können, mit Abstand die beste!
Er grinste.
Aber die Exklusivrechte dazu habe ich.
Der Böse Wolf beschloss, den Tauchereinsatz noch eine halbe Stunde zu verfolgen und abzuwarten, ob sie Rote Zwei aus der schwarzen Strömung fischten, aber keine Minute länger. Er richtete sich auf die Wartezeit ein, auch wenn sein Beobachtungsposten auf der Brücke wenig Erkenntnisse versprach. Während er zusah, dachte er sich andere Möglichkeiten aus, um sich Klarheit zu verschaffen.
Der Direktor stand in der Tür und begrüßte Mrs. Böser Wolf mit einem trockenen Lächeln. Er wirkte bedrückt, was sich sowohl in seinem Ton als auch in seiner gebeugten Haltung zeigte.
»Haben Sie den Bericht des
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