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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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ging es um ein verfrühtes Folgerezept. Jordan wusste genau, wieso diesem anonymen Schüler das Ritalin ausgegangen war: entweder, weil er einen Teil verkauft oder weil es ihm jemand gestohlen hatte. Es war eine begehrte Partydroge.
    Irgendwer hat seinen Spaß damit, dachte sie, und jetzt kann sich der Schüler nicht auf seine Hausarbeit in Geschichte konzentrieren.
    Es war zum Lachen, wie der Schüler versucht hatte, der Psychologin mehr davon abzuschwatzen. Jordan wusste, dass die Schule die Zahl der Pillen, über die ein Patient verfügen durfte, kontrollierte: gerade genug für einen Tag Konzentration.
    Die Psychologin gestikulierte in der Luft und machte dann – das Telefon immer noch am Ohr – Jordan ein stummes Zeichen, dass sie gleich für sie da sei, woraufhin sich Jordan wieder dem Fenster zuwendete. Vage konnte sie in der Scheibe ihr Spiegelbild ausmachen – ein bleiches Gesicht, wie von einer Fremden. Das ist Rote Drei, nicht Jordan, stellte sie fest.
    Die Psychologin legte mit einem betonten »Okay, okay, okay« auf, sackte im Stuhl zurück und wandte sich ihrem Gegenüber zu. Sie lächelte.
    »Also, Jordan, dann erzählen Sie mir mal, was Sie gestern Abend gesehen haben.«
    Gleich zur Sache, dachte Jordan.
    »Wenn mir Ritalin verschrieben würde …«, fing Jordan an.
    Die Psychologin gab ein gekünsteltes Lachen von sich. »Das war eine ziemlich durchschaubare Unterhaltung, nicht wahr?«
    Jordan nickte.
    »Aber es ist etwas anderes, seinen Arzt erfolglos um ein Rezept für ein bewusstseinserweiterndes Medikament anzugehen, als mit anzusehen, wie sich eine Frau das Leben nimmt, nicht wahr?«, bemerkte die Psychologin.
    Hier wurde keine Zeit verloren, stellte Jordan fest.
    »Wir waren nach dem Spiel auf der Rückfahrt zur Schule. Ich war die Einzige, die aus dem Fenster geschaut hat. Ich hab gesehen, wie die Frau auf die Brüstung der Brücke stieg und sprang. Dann hab ich geschrien. Wohl eine instinktive Reaktion, nehme ich an.«
    Die Psychologin beugte sich vor, in der Erwartung, mehr zu hören.
    Jordan zuckte die Achseln. »Ich hab sie ja nicht etwa umgebracht.«
    Aber jetzt ist sie frei, fügte Jordan in Gedanken hinzu. Es war ein bisschen so, als sähe man zu, wie jemand etwas geschenkt bekommt, das man sich selbst besonders gewünscht hat. Sie beneidete Rote Zwei.
    Jordan rutschte auf ihrem Stuhl herum. Die Psychologin stellte Fragen, versuchte, ihre Gefühle zu ergründen, sich ein Bild davon zu machen, welche Eindrücke der Vorfall bei der Zeugin hinterlassen hatte. Es war absolut vorhersagbar gewesen, dass sie das Gespräch irgendwann auf ihre Eltern lenken würde, auf ihre schulischen Leistungen und ihre negative Haltung. Jordan wartete, bis es so weit war, und antwortete kurz und bündig. Sie wollte die Sache so schnell und so unbeschadet wie möglich hinter sich bringen und sich wieder darum kümmern, ihr Leben zu retten. Sie war bereit, alles zu sagen, jedes erwünschte Verhalten an den Tag zu legen und den Erwartungen der Frau entgegenzukommen, solange es ihr dabei half.
    Was ich hier sage, ist vollkommen belanglos.
    Für einen Moment malte sie sich aus, der Psychologin alles zu erzählen: von den Briefen, dem Video, davon, wie sie zu Rote Drei geworden war. Es war, als erzählte sie sich selbst einen Witz, und sie musste ein Schmunzeln unterdrücken.
    Und was würde die Frau tun? Sie würde denken, ich wäre übergeschnappt. Oder sie meldet es dem Direktor. Der ist ein wohlmeinender Trottel und ruft bestimmt die Polizei. Noch mehr wohlmeinende Trottel. Unterdessen zieht sich der Böse Wolf einfach in den Wald zurück und wartet, bis ich wieder allein bin und er machen kann, was er will. Vielleicht gewinne ich ein wenig Zeit, aber ich bleibe die Rote Drei. Und ich weiß, was er mit mir machen wird.
    Jordan hörte, wie sie die Fragen der Psychologin beantwortete, auch wenn sie kaum bei der Sache war. Was ihr über die Lippen kam, war durchschaubar und dürftig und hatte nicht das Geringste mit dem zu tun, was in ihr vorging. Den eigentlichen Schutzschild, ihren Eisenpanzer, den versteckte sie gut in ihrem Innern, bis sie ihn wirklich brauchte. Und das wird nicht mehr lange dauern, sagte ihr ein untrüglicher Instinkt.
    Der Böse Wolf ist unser Problem, sagte sie sich. Und das lösen wir selbst.
    Sie lächelte die Psychologin an und überlegte zugleich, ob Lächeln der Situation angemessen war und ob sie nicht am schnellsten hier herauskäme, wenn sie ein klitzekleines Trauma zugab,

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