Der Wolf
Basketballtrainers gelesen? Die Heimfahrt von ihrem Auswärtsspiel werden die Mädchen so schnell nicht vergessen.« Dabei schüttelte er betrübt den Kopf.
Mrs. Böser Wolf hatte die etwa dreißig Zeilen umfassende Schilderung des Vorfalls auf ihrem Monitor – nicht viel mehr als eine kurze Begründung für die verspätete Rückkehr nach dem Sieg. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass der Trainer lieber über das gewonnene Spiel berichtet hätte als über das, was danach passiert war. Sie nickte auf die Frage des Direktors.
»Schicken Sie bitte Jordan Ellis’ Geschichtslehrer eine SMS und eine E-Mail. Bei dem hat sie ihre nächste Stunde. Er soll sie bitten, noch vor der Mittagspause in mein Büro zu kommen.«
»Wird gemacht«, erwiderte Mrs. Böser Wolf beschwingt.
Der Direktor überlegte einen Moment und fügte hinzu: »Schreiben Sie ihm, sie soll unter allen Umständen zu mir kommen.«
Sie tippte die entsprechenden Botschaften. Nachdem sie beide verschickt hatte, rief sie Jordans Stundenplan auf ihrem Computer auf. Dann sah sie auf die Uhr an der Wand und schätzte, dass Jordan um elf Uhr zur Tür hereinkommen würde.
Wie sich zeigte, lag sie zwei Minuten daneben.
Jordan wirkte gehetzt und geistesabwesend.
Mrs. Böser Wolf setzte die verständnisvollste Miene auf und sagte in mitfühlendem Ton: »Oje, das war gestern Abend sicher ganz entsetzlich für Sie. Wenn ich mir vorstelle, was Ihnen das für einen Schrecken eingejagt haben muss, einfach furchtbar. Und so traurig.«
»Es geht schon wieder«, erwiderte Jordan kurz angebunden. »Ist er da?« Sie deutete auf das Büro des Direktors.
»Er erwartet Sie. Gehen Sie ruhig rein.«
Mrs. Böser Wolf spürte, dass ihr Herz schneller schlug. Bis jetzt war ihr nicht klar gewesen, wie aufregend es für sie sein würde, Jordan so nahe zu sein – nachdem sie nun wusste, dass sie das Vorbild für ein Mordopfer war. Als Geheimnisträgerin und Mitverschworene, zu der sie so unverhofft geworden war, fühlte sie sich quicklebendig. Mit einem Mal war ihr klar, wieso Jordan mit ihren mürrischen Antworten und ihrer schlaksigen, ein wenig herablassenden Körperhaltung die ideale Kandidatin war. Sie ist perfekt, dachte sie. Kein Wunder, dass er auf sie verfallen ist. Plötzlich konnte sie tausend Gründe erkennen, Jordan umzubringen.
Töte sie, dachte Mrs. Böser Wolf. Auf dem Papier.
Dieses prickelnde Gefühl, an einem kleinen Komplott mitzuwirken, war so überwältigend, dass ihr die Hände ein wenig zitterten. Es ist, als befände ich mich auf einmal mitten in meinem eigenen Roman, dachte sie.
Mrs. Böser Wolf schien in eine Welt hinüberzudriften, in der Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr klar geschieden waren. Es fühlte sich an, als stiege sie in ein warmes, wohltuendes Bad.
Jordan ging zügig an ihrem Schreibtisch vorbei, und Mrs. Böser Wolf blickte ihr hinterher. Plötzlich sah sie Arroganz und Egoismus, Absonderung und Boshaftigkeit in jedem von Jordans Schritten.
Sie atmete flach und musste sich ein Lachen verkneifen. Nachdem sie in dieses wundervolle Geheimnis eingeweiht war, konnte sie sich plötzlich eine Vorstellung davon machen, wie ein Schriftsteller vorging, wie er ein ichbezogenes, verwöhntes junges Mädchen in eine Romanfigur verwandelte. Ein wenig war es so, als schaute sie ihm beim Schreiben über die Schulter, auch wenn sie einräumen musste, dass sie damit wohl ein bisschen übertrieb.
Jordan hatte die Tür zum Büro des Direktors nicht geschlossen, wie es eigentlich Vorschrift war. Normalerweise wäre Mrs. Böser Wolf aufgestanden und hätte die Tür ihrerseits zugezogen, damit der Direktor ungestört unter vier Augen mit dem Schüler sprechen konnte, insbesondere bei einer Schülerin wie Jordan, die mit ihren Leistungen in solchen Schwierigkeiten steckte. Sie hatte sich schon halb aus ihrem Sessel erhoben, als Mrs. Böser Wolf sich ins Bewusstsein rief, dass sie durch die geöffnete Tür die gesamte Unterhaltung nebenan verfolgen konnte. Und im selben Moment erkannte sie, dass sie möglicherweise etwas Hilfreiches erfahren würde.
Schließlich bin ich mehr als eine einfache Sekretärin.
Sie reckte den Kopf Richtung Tür, um möglichst viel zu verstehen, und legte sich auf dem Schreibtisch einen Notizblock zurecht, um interessante Informationen festzuhalten.
Als Erstes hörte sie: »Ehrlich, mir fehlt nichts. Ich brauche mich nicht mit jemandem auszusprechen, schon gar nicht mit einer ach so einfühlsamen Psychologin. Es
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