Der Wolf
geht mir gut.« Jordans Ton war ärgerlich und herablassend.
»Sehen Sie, Jordan«, erwiderte der Direktor bedächtig, »solche traumatischen Vorfälle hinterlassen Spuren, die wir zunächst gar nicht wahrnehmen mögen. Mit anzusehen, wie sich eine Frau in den Tod stürzt, das steckt man nicht einfach mal so weg.«
»Mir fehlt nichts«, wiederholte Jordan trotzig. Innerlich hatte sie nur den einen Gedanken, möglichst schnell aus diesem Büro zu kommen. Jede Sekunde, die sie sich von der wahren Bedrohung ablenken ließ, konnte gefährlich für sie werden. Sie wusste, dass die Stunden auf dem Basketballfeld die einzigen Gelegenheiten waren, bei denen sie vor dem Wolf sicher war und sich einfach der körperlichen Anstrengung hingeben konnte. Es kostete sie äußerste Beherrschung, dem Direktor nicht ins Gesicht zu schreien: Weißt du was? Ich habe verdammt noch mal Wichtigeres im Kopf als irgendeine Unterrichtsstunde oder ein Treffen mit einer Seelenklempnerin oder sonst irgendwas, das in deine kleine heile Internatswelt passt!
Sie sagte nichts dergleichen. Dafür merkte sie, wie die Anspannung in ihrem Kopf und ihrem ganzen Körper immer unerträglicher wurde, und sie wusste, dass sie das Richtige sagen musste, um hier einen Abgang zu machen und, wenn irgend möglich, zu verhindern, dass sie ermordet wurde.
»Sicher, schon«, fuhr der Direktor fort. »Und ich glaube Ihnen. Trotzdem muss ich darauf bestehen, dass Sie mit jemandem reden. Wenn Sie das tun und der Arzt oder die Ärztin derselben Meinung ist und sagt, Sie sind okay, dann sei’s drum. Aber ich bestehe darauf, dass ein Psychologe hinzugezogen wird. Haben Sie letzte Nacht überhaupt geschlafen?«
»Ja. Acht Stunden, wie ein Murmeltier«, tischte Jordan dem Direktor ein Klischee auf, das er vermutlich nicht schlucken würde.
Er schüttelte den Kopf. »Das wage ich zu bezweifeln, Jordan«, sagte er, ohne hinzuzufügen: »Wieso lügen Sie mich an?«, auch wenn ihm genau diese Frage durch den Kopf ging.
Er reichte ihr einen Zettel. »Um achtzehn Uhr. Heute Abend, im Gesundheitszentrum. Die erwarten Sie.«
»Schon gut, meinetwegen geh ich hin, wenn Sie drauf bestehen«, antwortete Jordan.
»In der Tat bestehe ich darauf«, antwortete der Direktor, »aber Sie sollten begreifen, dass es in Ihrem eigenen Interesse liegt.« Er versuchte, einen weicheren, verständnisvolleren Ton in seine Worte zu legen, hatte jedoch das Gefühl, dass sie auf felsigen Boden fielen.
»Kann ich jetzt gehen?«
»Ja«, seufzte der Direktor. »Wie gesagt, Punkt achtzehn Uhr. Sollten Sie nicht erscheinen, gehen wir das Ganze morgen noch mal von vorne durch, nur dass Sie dann jemand zu der Verabredung begleiten wird.«
Jordan steckte den Terminzettel in ihren Rucksack. Sie stand auf und ging ohne ein weiteres Wort. Der Direktor sah ihr nach und stellte fest, dass er noch nie jemanden gesehen hatte, der so entschlossen schien, seine Zukunft wegzuwerfen, wie Jordan.
In ihrem Büro beeilte sich Mrs. Böser Wolf aufzuschreiben, was sie mitgehört hatte.
18
:
00
Uhr Gesundheitszentrum.
Als Jordan an ihr vorbeistürmte, blickte sie kurz auf und griff nach dem Telefon. Das Mädchen sah sich nicht einmal zu ihr um.
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31
J ordan blickte zum Fenster hinaus und konnte in der zunehmenden Dunkelheit nur noch verschwommen die leeren Spielfelder vor den ersten Bäumen des dahinter liegenden Naturschutzgebiets erkennen. Die Lage war typisch für Neuenglands Privatschulen: eine ländliche, bewaldete Umgebung, die Besuchern den Eindruck vermittelte, an diesem Ort der Gelehrsamkeit gebe es nichts, was die Schüler vom Lernstoff, der Unterweisung in den Künsten und der sportlichen Ertüchtigung ablenken konnte. Natürlich wusste Jordan, dass es auf der anderen Seite helle Lichter, laute Musik und alle möglichen Aktivitäten gab, mit denen sich ihre Altersgenossen regelmäßig in Schwierigkeiten brachten. Sie selbst jedoch steckte in ganz anders gearteten Schwierigkeiten.
Sie wartete geduldig, bis die Psychologin, die ihr gegenüber am Schreibtisch saß, das Gespräch mit einem ortsansässigen Psychiater beendet hatte, der sich auf pharmazeutische Lösungen für jugendliche Angststörungen spezialisierte. Sie sprachen gerade über eine Verschreibung von Ritalin, dem Medikament der Wahl gegen ADHS . Die Psychologin, eine etwas ungepflegte, hagere junge Frau, die vielleicht gerade mal zehn Jahre älter war als Jordan, achtete darauf, in ihrer Gegenwart keine Namen zu nennen. Offenbar
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