Der Wolf
einem schüchternen Lachen.
Die Frau verstaute die Waffe wieder in ihrer Schublade.
»Ich übe regelmäßig am Schießstand.«
»Eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung.«
»Inzwischen bin ich eine versierte Schützin.«
»Das ist beruhigend.«
»Wann bringen Sie Ihre Freundin?«
»Bald«, sagte Karen, »sehr bald.«
»Wir haben keine festen Aufnahmezeiten. Die Frauen kommen rund um die Uhr, ob zwei Uhr nachmittags oder morgens, ist egal. Verstehen Sie?«
»Ja.«
»Ich werde den Mitarbeitern Bescheid geben, dass wir jederzeit mit einem Neuzugang rechnen.«
»Das wäre sehr freundlich.«
Karen packte ihre Sachen, da das Gespräch offenbar zu Ende war, doch die Frau hatte noch eine letzte Frage.
Sie sah Karen eindringlich an. »Die Rede ist von einer Freundin, verstehe ich Sie richtig?«
Bevor sie sich für den Rest des Tages in ihre Praxis begab, hatte Rote Eins einen weiteren Termin zu absolvieren. Auch wenn sie als Ärztin oft dort gewesen war, fand sie den Ort jedes Mal aufs Neue traurig.
Schon immer war ihr aufgefallen, dass das Licht im Eingangsbereich zum Hospiz grell, kalt und unangenehm in den Augen war, dass es aber, je weiter man sich in das Innere begab, weicher und milder wurde, dass dort mehr schattige Nischen auf einen warteten und die weiß getünchten Wände ein gelbliches Grau annahmen. Das Gebäude selbst schien den fortschreitenden Tod widerzuspiegeln.
Dudelsack,
fiel ihr von ihrem letzten Besuch ein.
Die Schwestern im Hospiz wirkten ein wenig überrascht, Karen zu sehen. Sie hatten sie nicht gerufen.
»Wollte nur in einer alten Akte etwas überprüfen«, sagte Karen in beiläufigem Ton, als sie zügig an den Tischen vorbeiging, an denen die Schwestern zusammensaßen, wenn sie sich vom Sterben, das in sämtlichen Zimmern vor sich ging, eine kurze Pause gönnten. Diese Erklärung würde dafür sorgen, dass sie unbehelligt blieb.
Sie betrat ein kleines Nebenzimmer mit einer Kaffeemaschine auf einem Schreibtisch sowie drei großen schwarzen Aktenschränken aus Stahl. Sie brauchte nicht lange, um den beigefarbenen Ordner mit der Patientenakte zu finden, die sie benötigte.
Sie nahm die Mappe mit zum Schreibtisch. Für einen Moment kam sie beim Anblick der Zigaretten, die – sorgfältig markiert – in der obersten Schublade lagen, in Versuchung. Ihr wurde bewusst, dass sie seit Tagen nicht mehr geraucht hatte.
Wie nett von dir, Mr. Böser Wolf, dachte sie. Vielleicht hast du mir endlich dieses Laster ausgetrieben – Rauchen kann tödlich sein. Wenn du mich dann umbringst, ersparst du mir ein wirklich jämmerliches Ende. Wie soll ich dir nur danken!
Sie suchte nach Krebs. Nicht speziell nach der Krankheit, sondern nach der Frau, deren Akte sie vor sich ausgebreitet hatte und die daran gestorben war.
Cynthia Harrison. Ein ganz gewöhnlicher Name, dachte Karen. Umso besser.
Achtunddreißig Jahre alt.
Für Brustkrebs ziemlich jung. Das war traurig. Andererseits nur drei Jahre älter als Rote Zwei.
Verheiratet. Keine Kinder.
Wahrscheinlich hat sie es erfahren, weil sie nicht schwanger wurde. Sie haben ein paar Fruchtbarkeitstests durchgeführt und sind auf die alarmierenden Werte gestoßen. Danach kam wahrscheinlich die Tretmühle der Ärzte, der Therapien und der endlosen Schmerzen.
Nur drei Wochen im Hospiz, nachdem ihr die Bestrahlung ebenso wenig geholfen hatte wie der anschließende chirurgische Eingriff.
Sie haben sie hierher geschickt, weil es der kostengünstigste Ort zum Sterben ist. Hätten sie die Frau stattdessen im Krankenhaus behalten, hätte es zigtausend Dollar gekostet. Und sie wussten, dass sie nur noch so lange zu leben hatte, wie ihre Angehörigen brauchten, um alles zu regeln.
Sie überprüfte die Formulare des Beerdigungsinstituts und stellte fest, welcher Kollege den Totenschein ausgestellt hatte. Es war der Chirurg. Wahrscheinlich wollte er mit der Unterschrift den Fall hinter sich bringen und vergessen, dass er versagt hatte. Sie notierte sich alle notwendigen Informationen. Sämtliche Angaben zur Person: Geburtsdatum; Geburtsort. Letzte Anschrift. Beruf. Nächste Angehörige. Sozialversicherungsnummer. Das Wichtigste zur Krankengeschichte. Größe, Gewicht, Augenfarbe. Haarfarbe. Karen hielt jede Kleinigkeit fest, die sie der umfangreichen Akte entnehmen konnte.
Dann ging sie durch den Flur zu einer der Stationstheken. Sie brauchte nur einen roten Plastikbeutel mit der Aufschrift
Achtung, ansteckender medizinischer Abfall!
sowie einen großen
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