Der Wolf
Rhythmus stand in krassem Gegensatz zu ihren eigenen düsteren Gefühlen.
»Und was machen wir jetzt?«, flüsterte Sarah. »Vielleicht ist er es, vielleicht auch nicht. Ich meine, was zum Teufel können wir unternehmen? Was haben wir für Optionen?«
Wieder hüllten sich die drei Frauen in Schweigen.
Karen, die Organisatorin unter ihnen, nahm sich mit ihrer Antwort ein paar Minuten Zeit. »Erste Möglichkeit, wir tun gar nichts …«
»Genialer Plan«, fiel ihr Jordan ins Wort. »Und warten, bis er uns abmurkst?«
»Hat er schließlich noch nicht. Hat er vielleicht nicht einmal vor. Nicht auszuschließen, dass das alles nur, keine Ahnung«, sie deutete mit der Hand vage auf die Ausstattung des Labors, »ein abartiges Experiment ist, eine bizarre Idee, auf die nur ein Schriftsteller verfallen kann und …«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
»Außer seiner eigenen Aussage haben wir keinerlei Beweis dafür, dass der Wolf uns umbringen will.«
»Blödsinn! Er hat uns monatelang beobachtet und …«, warf Sarah ein.
»Und was ist mit deinen toten Katzen?«, fiel Jordan ein.
»Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass sie tot sind. Ich weiß nur …« Karen wusste, dass sie das Gegenteil von dem sagte, was sie glaubte.
»Blödsinn!«, unterbrach sie Jordan wie ein Echo von Sarah. »Und das weißt du ganz genau.«
Sie hatten recht, doch Karen fuhr mit ihren an den Haaren herbeigezogenen Argumenten und ihrer Verdrehung der Tatsachen fort.
»Vielleicht geht es ihm nur darum. Vielleicht steht er darauf, uns jahrelang zu verhöhnen und zu bedrohen.«
Jordan schüttelte aus tiefster Überzeugung den Kopf. »Jeder von diesen Seelenklempnern, zu denen mich meine Alten über die Jahre geprügelt haben, hätte gesagt: ›Das ist reine Verdrängung‹, und dazu haben sie dieses gottverdammte Grinsen aufgesetzt, als wäre das eine spitzenmäßige Weisheit und das beste Rezept, um mich augenblicklich auf Vordermann zu bringen. Hör auf zu verdrängen, und schon bist du angepasst, glücklich und stinknormal, als ob es das irgendwo auf der Welt gäbe.«
Karen und Sarah waren dankbar für die Dunkelheit im Raum, weil sie beide, trotz ihrer Ängste, schmunzeln mussten. Genau das gefiel Karen an Jordan. Wenn sie das hier einigermaßen unbeschadet übersteht, dachte sie, wird etwas ganz Besonderes aus ihr.
Das Wörtchen
wenn
bereitete ihr beinahe physische Schmerzen, wie ein Magenkrampf oder ein Schlag ins Gesicht.
»Also, nichts tun und abwarten, ob er uns umbringt, ist eine Option«, nahm Sarah ihren Gedanken wieder auf. »Noch eine Idee?«
»Wir könnten es mit Konfrontation versuchen«, sagte Karen. »Und sehen, ob ihm das Angst macht.«
»Du meinst«, warf Jordan ein, »wir klopfen bei ihm an die Tür und sagen ›Hallihallo, wir sind die drei Roten. Eine von uns hat schon ihren Tod vorgetäuscht, aber wir wären Ihnen doch ausgesprochen dankbar, wenn Sie ab jetzt bitte schön nicht mehr sagen würden, dass Sie uns umbringen wollen.‹ Also, das ist mal ein Plan, den wir alle voll und ganz unterstützen können.«
Jordans Sarkasmus schien von den Wänden widerzuhallen.
Sarah nickte. »Wenn wir das tun oder etwas Vergleichbares, ihm zum Beispiel stecken, dass wir wissen, wer er ist, zwingen wir ihn geradezu, etwas zu unternehmen. Sein Vorhaben vielleicht sogar zu beschleunigen. Denkt nur an all die Filme, in denen die Kidnapper der Familie des Opfers sagen
Keine Polizei,
und entweder tun sie’s doch, oder sie lassen es bleiben, aber so oder so können sie es nur falsch machen, denn in jedem Fall setzen sie die Entführer unter Druck. Es ist, als hätte uns jemand entführt.«
»Und noch was«, fügte Jordan hinzu. »Wenn wir ihn einfach nur zur Rede stellen, geben wir jeden Vorsprung, den wir haben, aus der Hand. Er leugnet einfach, dass er der Wolf ist, knallt uns die Tür vor der Nase zu, und wir fangen von vorne an. Vielleicht sind wir dann morgen oder die Woche drauf oder meinetwegen nächstes Jahr tot. Vielleicht schmiedet er lediglich einen neuen Plan, und auch dann stehen wir wieder am Anfang. Jedenfalls machen wir die Ungewissheit in unserem Leben nur noch schlimmer.«
Karen legte einen Moment den Kopf in die Hände. Sie stocherte im Nebel verschiedener Möglichkeiten. Es war, als sichtete sie die Symptome eines schwerkranken Patienten. Ein falscher Schritt, eine Fehldiagnose konnte für den Patienten tödlich sein.
»Wir wissen nicht mit absoluter Sicherheit, dass er der Wolf ist«, sagte sie.
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