Der Wolf
nach rechts führte über zwei Stockwerke zu den Werkstatträumen hinunter.
Jordan blickte sich um – es war ihr zur zweiten Natur geworden, sich zu vergewissern, dass ihr niemand folgte – dann rannte sie zwei Stufen auf einmal nehmend nach unten.
Die Werkstätten würden im Viertelstundentakt von Lehrern inspiziert, da sie ein beliebtes Versteck zum Knutschen waren. Jordans Weg führte sie an diesen Hotspots vorbei ins Chemie- und Physikgebäude nebenan. Sie fühlte sich wie in einem Kriegsgefangenenlager bei dem Versuch Lichtmasten und Wachposten zu umgehen.
Es hatte seine Vorteile, im letzten Schuljahr zu sein. Bis dahin war man mit sämtlichen Marotten und Eigenheiten der Schule vertraut – und wusste zum Beispiel, welche Türen nicht abgeschlossen waren.
Jordan ließ die Klassenzimmer links liegen und lief eine Treppe zu den Laborräumen hinunter; sie lagen nicht an den Hauptwegen und Innenhöfen der Schule, sondern gingen auf die Sportplätze hinaus. Es war dunkel – nur vom hell erleuchteten Kunstgebäude drang etwas Licht herüber. Hier drinnen war es still. Die einzigen Geräusche in unmittelbarer Nähe waren ihre Sportschuhe auf dem Boden und ihr eigener Atem – alles andere war Rhythm and Blues und Rock and Roll von der Band im anderen Gebäude.
An der dritten Labortür blieb Jordan stehen und drehte den Knauf. Hinter der Tür war es dunkel. Sie konnte die Konturen der Laborgeräte auf den breiten Tischen erkennen, an denen die Schüler ihre Experimente durchführten.
Sie flüsterte: »Karen? Sarah?«
Aus einem dunklen Winkel kam die Antwort: »Hier.«
[home]
38
S chon der Raum wirkte konspirativ.
Dunkle Schatten in jeder Ecke, fahles Licht vom benachbarten Kunstgebäude, die teils bizarren Formen der wissenschaftlichen Behälter, Geräte und Apparaturen – diese Hexenküche bildete den passenden Rahmen, um böse Ideen und kühne Pläne auszuhecken. Es war viele Jahre her, seit Karen das letzte Mal ein Schullabor von innen gesehen hatte. Und auch Sarahs Lehrtätigkeit in den Naturwissenschaften hatte sich auf das Studium von Enten, Fröschen und Tieren auf dem Bauernhof beschränkt. Jordan dagegen liebte diesen Raum, nicht aus wissenschaftlichem Eifer, sondern weil man darin seltsame Chemikalien und Substanzen zu übelriechenden Fehlschlägen oder explosiven Erfolgen zusammenbrauen konnte – was sich aus ihrer Sicht recht gut auf die Situation übertragen ließ, in der sie sich befanden. Außerdem machte ihr der Gedanke Mut, dass die Ordnung und die logischen Zusammenhänge, wie sie die Naturwissenschaften offenlegten, ihnen vielleicht bei der Planung der nächsten Schritte helfen könnten.
Die drei Roten saßen im Schneidersitz auf dem Boden hinter einem langen Tisch. Sie beugten sich über Karens Laptop in ihrer Mitte, während Jordan verschiedene Informationen eintippte.
»Hier«, sagte Jordan und zeigte auf den Bildschirm. »Google-Bilder muss man einfach lieben.«
Aus dem Computer starrte ihnen das unscheinbare Konterfei eines Mannes im Alter von etwa sechzig Jahren entgegen. Um die Ohren hatte er graumeliertes, zotteliges Haar, das sich auf dem Schädel bereits gelichtet hatte, und er trug eine Schildpattbrille auf der Nase. Das Bild war vor einigen Jahren bei einer Lesereihe in einem Buchladen der Stadt entstanden. Er war offensichtlich knapp unter eins achtzig groß und nicht wirklich korpulent, aber ebenso wenig der sportliche Typ. Das Bemerkenswerteste an ihm war seine Durchschnittlichkeit.
»Meint ihr, das ist der Mörder?«, fragte Jordan.
»Ich hatte mir den Wolf völlig anders vorgestellt«, gestand Karen.
»Wie sehen Mörder denn aus?«, fragte Jordan. »Und wie sähe ein Wolf aus?«
»Groß. Stark, mit raubtierhaften Zügen. Das kann ich bei dem Kerl nicht sehen«, erwiderte Karen ruhig.
»Er ist Schriftsteller. Krimis und Thriller«, rief ihnen Sarah ins Gedächtnis.
»Sagt uns das was?«, fragte Karen.
»Na ja, zunächst mal, dass er sich mit Verbrechen auskennt«, erwiderte Sarah. »Muss nicht jeder Krimischriftsteller, der gut genug ist, einen Verlag für sein Buch zu finden, einiges darüber wissen, wie man ein Verbrechen begeht?«
»Ja, vermutlich schon«, erwiderte Karen in etwas spitzem Ton. »Aber er wüsste auch, wodurch sich Verbrecher erwischen lassen.«
Sie wandte sich zu Jordan.
»Erzähl uns was über die Ehefrau«, sagte sie.
»Ein Biest«, schnaubte Jordan.
»Das besagt nicht viel«, warf Karen ein.
»Doch«, widersprach ihr
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