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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Sarah.
    »Die Frau sitzt im Vorzimmer des Direktors und kriegt die Zähne nie zu einem Lächeln auseinander«, führte Jordan ihre Beschreibung weiter aus. »Grüßt nicht. Macht jedes Mal ein pikiertes Gesicht, wenn der Direx einen antanzen lässt und zusammenscheißt, egal was man angestellt hat, als hätte man ihr ganz persönlich den Tag versaut.«
    »Du meinst, nur weil sie ein bisschen ruppig ist …«, fing Karen an, sprach jedoch nicht weiter. Teenager denken nun mal schwarz-weiß, rief sie sich ins Gedächtnis, ein bisschen zu vereinfachend. Außer sie kommen plötzlich mit atemberaubenden, hellsichtigen Ideen und Beobachtungen. Sie sah Jordan im Dunkeln an und versuchte zu ergründen, ob dies hier ein solcher Moment war.
    Jordan war von ihnen dreien die Wütendste. Selbst im Dämmerlicht dieses Raums sah Karen, wie das Gesicht des jungen Mädchens vor kaum bezähmtem Zorn glühte. Karen fürchtete, dass diese Wut Jordan zu einem Risikofaktor machte. Zugleich machte es sie so unwiderstehlich. Sie wurde nicht von Zweifeln geplagt – zumindest nicht, soweit Karen das beurteilen konnte. Sie überlegte, ob sie selbst einmal wie Jordan gewesen war. Vermutlich konnte die Antwort nur
ja
lauten, da die Grenze zwischen Wut und Zielstrebigkeit oft fließend war. Mit einem Schlag fühlte sie sich alt, doch dann korrigierte sie sich. Nein, das ist es nicht. Ich fühle mich entmutigt, weil ich daran denke, was wir vielleicht tun müssen.
    »Ich bleibe dabei, die Frau ist ein Biest«, bekräftige Jordan. Dann stockte sie einen Moment, und in dieser Sekunde schnappte sie so heftig nach Luft, dass es im Labor widerhallte.
    »Was hast du?«, fragte Sarah.
    Plötzlich zitterte Jordan die Stimme, als wäre etwas Furchteinflößendes zu ihnen eingedrungen und lauerte fauchend und mit scharfen Krallen in einer Ecke. Der Wandel vom ungestümen, grimmigen Mädchen, an das sich die anderen beiden Roten gewöhnt hatten, hätte kaum krasser sein können. »Mir ist nur gerade bewusst geworden, dass das Biest zu jedem Basketballspiel kommt.«
    »Na ja, aber was …«, wollte Sarah nachhaken und löste damit einen aufgeregten Wortschwall aus.
    »Zu jedem Spiel. Ich meine, sie ist immer da, mitten auf der Tribüne. Ich hab schon tausendmal bemerkt, dass sie uns zusieht. Nur dass ich bis jetzt angenommen habe,
uns.
Vielleicht beobachtet sie eigentlich
mich.
Und wenn sie kommt, wette ich zehn zu eins, dass ihr Mann auch da ist, direkt neben ihr.«
    »Und hast du ihn schon mal gesehen?«
    »Klar. Sicher, wahrscheinlich. Aber woher sollte ich wissen, wer er ist?«
    Das leuchtete ein.
    »Und wartet, das ist noch nicht alles«, geriet Jordan immer mehr in Fahrt. »Im Büro des Direx hat sie Zugang zu meiner Schulakte. Sie weiß haargenau, wann ich wo bin, ob ich Unterricht habe und welchen, ob ich beim Mittagessen in der Kantine bin, beim Basketballspielen oder in der Bibliothek. Die weiß so gut wie alles. Oder kann es sich zumindest mühelos zusammenreimen.«
    Sarah lehnte sich zurück. Sie war aufgewühlt.
Du fängst mit einer Sache an, stellst zu einer anderen Beobachtung einen Zusammenhang her, und in null Komma nichts kommt einem alles bedeutsam vor, selbst wenn es noch so banal sein mag.
    Für Jordan lag es plötzlich auf der Hand. Fiese Sekretärin. Ehemann. Basketball. Ihr Weg zur Turnhalle. All die gescheiterten Termine mit der Psychologin, um sie wieder auf Kurs zu bringen. Wenn man das zusammennahm, war eine Linie darin zu erkennen. Jordan tippte plötzlich wie wild in die Computertastatur, und schon erschienen Fotos von den Einbänden der vier Romane, die der Mann geschrieben hatte.
    Die Umschläge waren reißerisch, suggestiv und schrill. Auf einem schwang ein Mann ein blutiges Messer, beim nächsten stach eine riesige Handfeuerwaffe auf einem Tisch ins Auge. Bei einem dritten lauerte eine schattenhafte Gestalt in einer schmalen Gasse. Bei diesem Bild lief Karen ein Schauder über den Rücken.
    »Er hat seit Jahren nichts mehr veröffentlicht. Vielleicht ist er im Ruhestand«, bemerkte Karen, ohne sich selbst ein einziges Wort davon zu glauben.
    »Sicher. Könnte man aber auch anders sehen«, schnaubte Jordan. »Vielleicht wurde es ihm langweilig, nur über Mörder zu schreiben, und er wollte es mal in echt ausprobieren.«
    Die drei Roten schwiegen eine Weile; Jordans Bemerkung jagte jeder von ihnen auf unterschiedliche Weise Angst ein. Aus der Ferne hörten sie die Musik von der Tanzveranstaltung. Der pulsierende, stampfende

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