Der Wolf
weiße Schindelhäuser mit gepflegten Gärten. Es war der Allerweltsstil in Neuengland – kein Motiv für Ansichtskarten oder Reisebroschüren, die mit stattlichen alten Villen oder Bauernhäusern aufwarteten. Hier handelte es sich um Häuser, die vor dreißig Jahren gebaut worden waren und von der zweiten oder dritten Generation einer Arbeiterfamilie, für die das Eigenheim Teil des amerikanischen Traums vom sozialen Aufstieg war, liebevoll in Schuss gehalten wurden. In solchen Wohngegenden gingen die Leute freitagabends zur örtlichen Highschool, um die Football-Mannschaft anzufeuern, und sonntags gab es nach dem Kirchgang Hackbraten zum Mittagessen. Hier lebten die glühendsten Fans der Red Sox und der Patriots, auch wenn sie sich die sündhaft teuren Eintrittskarten, wenn es hochkam, ein Mal im Jahr leisten konnten. Ihre Kinder wuchsen mit der Hoffnung auf, einen guten Job mit Flächentarifvertrag zu bekommen, so dass sie in die Fußstapfen ihrer Eltern treten, es aber ein bisschen weiterbringen würden, genauso wie ihre Eltern es ein bisschen weitergebracht hatten als die Generation vor ihnen. Solche Viertel, solche Häuser waren der Inbegriff dessen, was in Amerika gleichzeitig gut und falsch lief, denn hinter den kurz gemähten Rasenflächen und frisch gestrichenen Aluminiumverkleidungen verbargen sich mehr als ein paar Alkohol- und Drogenprobleme, häusliche Gewalt und andere Bedrängnisse, die sich so oft unter der trügerischen Oberfläche der Normalität finden. Die drei Roten sahen sich die Bilder vom Haus und von der Straße aus allen Perspektiven an und versuchten nachzuvollziehen, wie der Wolf, wie das personifizierte Böse, an einem solchen Ort leben und gedeihen konnte. Es schien unmöglich, dass dort ein Mörder wohnte.
Rote Eins dachte: Das sind die Leute, die zu mir in die Praxis kommen, wenn sie krank sind. Rote Zwei dachte: Die sind wie ich. Rote Drei dachte: Mich trennen Welten von diesen Leuten; sie würden mich hassen, wenn sie meine Privatschule, meine teuren Klamotten und mein reiches Elternhaus sähen.
Sarah meldete sich als Erste zu Wort.
»Ich weiß zwar nicht, ob der Wolf da tatsächlich wohnt, aber im Moment haben wir keine anderen Anhaltspunkte. Keine anderen Ideen. Wie die Dinge liegen, kommt nur er in Frage. Ich denke, da sollten wir hin.«
»Ich stimme dir zu«, sagte Karen.
»Wisst ihr was«, sagte Jordan leise, »als das Rotkäppchen dem Bösen Wolf gegenübersteht, macht es nicht kehrt und rennt weg, sondern stellt ihm konkrete Fragen.
Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?
«
Die anderen schwiegen.
»Wir müssen dem Schriftsteller und seiner Frau ein paar harte Fragen stellen. Wir dürfen nicht länger warten. Wir können uns keinen Aufschub leisten. Jede Minute, die verstreicht, ohne dass wir etwas unternehmen, gibt dem Wolf die Gelegenheit, uns in die Enge zu treiben. Wir müssen den Spieß herumdrehen, und zwar von diesem Augenblick an. Wir müssen die Situation beherrschen. Wenn wir auch nur eine Sekunde länger warten, kann es zu spät sein. Eigentlich ist es von Anfang an so gewesen, und wir haben unser Glück ein bisschen überstrapaziert.
Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?
Wir müssen die Frage so stellen, dass die zwei uns unmöglich anlügen können. Dann kriegen wir die Wahrheit aus ihnen raus. Und dann wissen wir auch, was wir tun müssen, denn wenn wir erst mal so weit sind, wird es auf der Hand liegen.«
Sie schwieg einen Moment und flüsterte. »Keine Lügen, keine Lügen, keine Lügen mehr. Von jetzt an.«
»Wie können wir das sicherstellen?«, fragte Sarah. »Wie stellt man eine Frage, die der andere nicht mit einer Lüge beantworten kann?«
Sie wusste die Antwort selbst.
Genau wie Karen.
Jordan griff nach unten und hatte plötzlich das Messer in ihrer Hand. Die dünne, scharfe Klinge fing einen matten Streifen Licht auf, das durch eins der Laborfenster hereindrang und schimmerte wie Quecksilber.
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39
R ote Eins kam es so vor wie die Arbeit an einer ausgefallenen Bühnennummer für ein eigenwilliges Publikum.
Für Rote Zwei war es wie eine Pappmachébastelei mit Klebeband und Faden. Rote Drei fühlte sich, als büffelte sie für eine schwierige Prüfung in einem Fach, das sie zu oft geschwänzt hatte.
Keine von ihnen nannte ihr Vorhaben beim Namen: Sie bereiteten sich darauf vor, einen Menschen zu töten.
Zu diesem Zweck hatten sie verschiedene Aufgaben unter sich verteilt, so dass jede mit
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