Der Wolf
Zuschauertribüne.
Sie hörte, wie die gegnerische Trainerin aus Leibeskräften schrie: »Irregulärer Block! Irregulärer Block!«
Da liegst du verdammt richtig, gute Frau, dachte sie.
Neben ihr zischte die gegnerische Spielerin, als sie wieder Luft bekam: »Miststück!«
Ich kann dir nicht widersprechen, dachte sie im Stillen und lief zurück auf ihre Position als Verteidigerin, wobei sie nach einem Ellbogen, der auf ihre Wange zielte, oder einer Faust, die sich ihr außer Sichtweite der Trainerin in den Rücken rammte, Ausschau hielt. Basketball war auch ein Spiel heimlicher Racheakte, und sie wusste, dass sie mit mindestens einem rechnen musste.
Der Lärm aus den Zuschauerrängen nahm mit der Spannung zu und erfüllte die Halle – es ging aufs Ende zu, und der Spielstand war knapp. Jordan wusste, dass jede Aktion in den verbleibenden Sekunden darüber entscheiden konnte, wer gewann und wer verlor. Die letzten Momente eines Basketballspiels erforderten äußerste Konzentration. Doch plötzlich schob sich ein anderer Gedanke dazwischen. Der Böse Wolf trickst Rotkäppchen auf Schritt und Tritt aus und lockt sie in die Falle. Niemand kommt ihr zu Hilfe. Niemand rettet sie. Sie ist völlig allein im Wald und kann nichts tun, um das Unvermeidliche zu verhindern. Sie stirbt. Nein, schlimmer: Sie wird bei lebendigem Leibe gefressen.
Jordan versuchte, ihre Recherchen vom Vorabend abzuschütteln. Sie hatte zwei Stunden in der Bibliothek zugebracht und Grimms Märchen gelesen, um sich noch einmal anderthalb Stunden lang psychologische Deutungen der Geschichte im Internet anzusehen.
Alles, was sie dabei erfuhr, hatte sie zugleich erschreckt und fasziniert – eine furchtbare Mischung aus Gefühlen.
Sie hörte, wie eine ihrer Teamkameradinnen brüllte: »Pass auf! Pass auf!« Und als ihre Gegnerin Stellung bezog, schob Jordan dem Mädchen die Schulter in den Rücken, um ihr zu sagen: Hallo, ich bin hier. Sie hörte warnende Rufe. »Block im Rücken! Abschirmung aufgepasst!« Organisiertes Chaos, musste Jordan denken. Diesen Abschnitt des Spiels liebte sie besonders.
Ein Mädchen des gegnerischen Teams versuchte einen unbedachten Drei-Punkte-Feldkorb. Überhastet, im Bewusstsein, dass ihr nur Sekunden blieben und der Spielstand denkbar knapp war, ließ sie sich von den anfeuernden Rufen mitreißen und verfehlte den Korb. Jordan sprang, erwischte den Rebound in der Luft und fuchtelte wild mit den Ellbogen, um die anderen davon abzuhalten, ihn ihr streitig zu machen. Eine Sekunde lang hatte sie das Gefühl, ganz allein zu sein, während sie sich wie ein Engel in die Höhe schwang. Dann prallte sie wieder auf den Hartholzboden. Sie spürte die rauhe Oberfläche des Synthetikleders in ihren verschwitzten Händen. Ihr war danach, jemandem ein übles Foul zu verpassen, doch sie tat es nicht. Stattdessen gab sie den Ball aus dem Handgelenk heraus an eine Verteidigerin ab und dachte, jetzt werden wir gewinnen, auch wenn ihr gleichzeitig dämmerte, dass in dem Märchen die Unschuld unweigerlich auf der Strecke blieb und der Böse Wolf und die unerbittliche Macht des Bösen, für die er stand, am Ende siegten. Kein Wunder, dass sie die Geschichte abgeändert haben, dachte sie. Die ursprüngliche Version war ein Alptraum.
Die Pfeife ertönte. Jemand hatte eine ihrer Kameradinnen gefoult. Das gegnerische Team versuchte mit aller Macht, wieder zum Zuge zu kommen. Träumt weiter, dachte Jordan. Die meinen wohl, wir vermasseln unsere Freiwürfe. Können sie lange hoffen.
Doch sie glaubte nicht, dass sie an diesem Abend irgendetwas gewonnen hatte. Das Spiel vielleicht. Aber sonst nichts.
Auf der Tribüne schlagen in den Sekunden nach dem Abpfiff, besonders bei einem knappen Ausgang, Wogen der Erleichterung gegen ebenso hohe Wellen der Enttäuschung. Hochgefühl und Niedergeschlagenheit sind wie Strudel und Strömungen in einem engen Kanal zu Beginn des Gezeitenwechsels. Genauso wie das Meer von der Natur in unterschiedliche Richtungen gelenkt wird, so werden die Emotionen hin und her geworfen. Der Böse Wolf genoss die Spannung, die rings um ihn mit Händen zu greifen war. Erleichterung und Frustration kämpften in der abgestandenen Luft der Sporthalle um die Oberhand. Gewinner und Verlierer.
Er war unglaublich stolz auf Rote Drei. Es war wunderbar gewesen, ihr dabei zuzusehen, wie sie kämpfte und sich jeden Fehler ihrer Gegenspielerin zunutze machte. Wie ihr die Mähne am Kopf klebte und die Stirn glänzte. Sie spielt
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