Der Wolf
Details aus ihrer Vergangenheit, Vorfälle aus ihrem Leben, die er bei seinen Nachforschungen zusammengetragen hatte, verdichteten sich zu einer Notiz auf einem Kärtchen oder zu Farbfotos auf Hochglanzpapier. Rote Eins hatte er beim Rauchen festgehalten. Eine gefährliche schlechte Angewohnheit, dachte er. Rote Drei saß allein unter einem Baum auf dem Campus. Immer einsam, rief er sich ins Gedächtnis. Rote Zwei kam auf einem Schnappschuss voll bepackt aus einer Spirituosenhandlung. Du bist so schwach, flüsterte er. Dieses Foto hatte er über einem Zeitungsausschnitt plaziert, der bereits vergilbte. Die Schlagzeile lautete:
Feuerwehrmann und Tochter,
3
, bei Autounfall getötet.
Auch bei der Kripo gab es solche Pinnwände, die den Beamten als visuelle Stütze dienten, um die Ermittlungsfortschritte in einem Fall zu verfolgen. Sie gehörten zu den klassischen Einstellungen in Hunderten von Filmen – nicht zu Unrecht, da sie tatsächlich weit verbreitet waren. Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied: Die Polizei heftete Tatortfotos mit den Opfern von Tötungsdelikten an die Wand, weil sie Antworten auf ihre Fragen suchte. Bei ihm hingegen hingen die dem Tode geweihten Lebenden, zu denen die meisten Fragen bereits beantwortet waren.
Er wusste, dass jede Rote unterschiedlich auf den Brief reagieren würde, denn er wusste auch, dass jeder Mensch anders mit Angst umging. Schließlich hatte er beträchtliche Zeit auf die Lektüre verschiedener literarischer und wissenschaftlicher Werke verwendet, die sich mit dem menschlichen Verhalten unter dem Eindruck einer unmittelbaren Bedrohung auseinandersetzten. Trotz einiger universeller Reaktionen – so wie beispielsweise beim Anblick einer Haifischflosse der Herzschlag einen Moment aussetzte – war der Böse Wolf instinktiv davon überzeugt, dass echte Ängste ganz unterschiedlich verarbeitet wurden. Wenn etwa ein Flugzeug unversehens in Turbulenzen geriet und durch den Himmel zu taumeln schien, dann schrie der Passagier auf Sitz 10 A und klammerte sich so fest an die Armlehnen, dass er weiße Fingerknöchel bekam, während der Fluggast auf 10 B die Achseln zuckte und sich wieder seiner Lektüre zuwandte. Diese Dinge faszinierten ihn. Sowohl in seiner Laufbahn als Romanschriftsteller als auch als Mörder war er diesen Dingen auf den Grund gegangen, und er wäre der Letzte, der die Wechselwirkung von Angst und Kreativität unterschätzen würde.
Er rechnete damit, dass eine Reihe von Dingen passieren würden, wenn sie seinen Brief gelesen hätten. Außerdem versuchte er, sich die Gefühle auszumalen, die er auslösen würde. Sie werden stolpern und fallen, dachte er. Sie werden vor Angst schlottern. Erst kürzlich hatte er auf dem Geschichtskanal eine Fernsehsendung gesehen, in der berühmte Scharfschützen interviewt wurden. Mit den neuesten technischen Mitteln wurden einige bemerkenswerte Attentate nachgestellt, die sie ausgeführt hatten, sei es in Korea, in Vietnam oder im Irak. Am meisten beeindruckte ihn neben der außergewöhnlichen Kompetenz der Schützen, die ihre Opfer als
Ziel
bezeichneten, als besäßen sie nicht mehr Persönlichkeit als die schwarze Mitte einer Zielscheibe, die emotionale Distanz, die sie an den Tag legten. Die Franzosen nannten das
sang-froid.
Nicht die leiseste Neigung zu Alpträumen, nachdem der Auftrag erledigt war. Er war sich nicht sicher, ob er das glauben sollte, denn seiner eigenen Erfahrung als Mörder nach zählte nicht nur, dass man jemandem das Leben nahm, sondern auch, was man hinterher empfand. Der eigentliche Reiz lag darin, das Erlebte im Geiste wieder und wieder durchzuspielen. Er begrüßte die Alpträume und vermutete, dass es den Killern beim Militär nicht anders ging. Sie gaben es nur vor laufender Kamera nicht zu.
Auch hier war er anders. Er dokumentierte alles.
Er fand das geradezu unwiderstehlich: Taten und Gedanken, der ganze Hexenkessel des Todes. In seinem Kopf überschlugen sich die Worte, und er tippte wie besessen in die Tasten.
Eine von ihnen – mindestens eine, aber nicht alle – wird die Polizei rufen. Damit ist zu rechnen, doch die Kripo wird genauso ratlos sein wie sie. Eine Straftat zu vereiteln ist genau das, wozu die Polizei nicht ausgebildet ist. Mag sein, dass sie rauskriegen, wer einen Mord begangen hat, nachdem er passiert ist – doch sie sind nicht besonders gut darin, einen zu verhindern. Der Secret Service beschützt den Präsidenten, und sie verwenden Tausende von Arbeits-
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