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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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und Brittany.
    Sie fuhr auf die Straße und hielt an. Wieder schloss sie die Augen.
Breitseite. Mit fünfzig, vielleicht sechzig Stundenkilometern. Genau wie der Öllaster. Komm schon, ich warte. Ich bin bereit.
    Erneut kniff Sarah die Augen fest zu.
    Jetzt kann es jeden Moment passieren, dachte sie.
    Die Hupe schien nur Zentimeter von ihrem linken Ohr entfernt zu dröhnen. Das Geräusch drang wie eine Explosion in die Stille.
    Sie schnappte nach Luft und hielt unwillkürlich den Arm hoch, als wollte sie sich vor dem Aufprall schützen. Sie riss die Augen auf und stieß einen Laut, halb Schrei, halb Schluchzen, aus.
    Es hupte noch einmal.
    Nur dass es diesmal lächerlich harmlos klang, als käme es von einem Spielzeug.
    Sie drehte sich zur Seite und stellte fest, dass sie einem Paar in einem japanischen Kleinwagen den Weg versperrte. Der Mann am Lenkrad, vielleicht Anfang sechzig, und seine Frau, die noch dunkle Haare hatte und ein wenig jünger schien, winkten in ihre Richtung, aber nicht einmal in unfreundlicher Absicht. Eher schienen sie ratlos, besorgt. Sarah starrte die beiden an und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ich blockiere die Straße. Sie wollen an mir vorbei.
    Die Frau auf dem Beifahrersitz kurbelte die Scheibe herunter. Aus vielleicht drei Metern Entfernung rief sie ihr in fragendem Ton zu: »Alles in Ordnung bei Ihnen?«
    Ja. Nein. Ja. Nein. Sarah antwortete, indem sie zur Entschuldigung stumm die Hand hob, ohne etwas zu erklären. Sie hantierte am Schaltknüppel, um den Vorwärtsgang einzulegen. Dann trat sie aufs Gas und fuhr, ohne sich noch einmal umzusehen, zügig weg. Sie hatte keine klare Vorstellung davon, wohin sie wollte, doch egal wohin, sie war in Eile und atmete schwer, wie ein Schwimmer, der vor dem Sprung in unbekannte Gewässer auf den Startschuss zum Wettkampf wartet.
    »Seltsam«, sagte Mrs. Böser Wolf.
    »Vielleicht hat die junge Dame einen Anruf auf dem Handy bekommen, oder ihr ist eingefallen, dass sie etwas vergessen hat. Trotzdem sollte man nicht mitten auf der Straße stehen bleiben«, antwortete der Böse Wolf. »Das ist wirklich gefährlich.«
    »Gut, dass du so schnell reagiert hast«, sagte seine Frau. »Es gibt schon wirklich seltsame Menschen.«
    »Kann man wohl sagen«, antwortete er, während er langsam weiterfuhr. »Wollen uns ja nicht verspäten.« Er lächelte. »Soll ich das Radio anmachen?«, fragte er freundlich und drückte so lange auf die Skala, bis er den Sender mit klassischer Musik gefunden hatte. Er
hasste
klassische Musik, hatte seiner Frau aber stets erzählt, er liebe sie.
     
    Karen Jayson saß, ein elektronisches Notebook für Ärzte vor sich, an ihrem Schreibtisch und stützte den Kopf auf die Hände. Der Tag ging dem Ende zu – er war lang, aber nicht übermäßig anstrengend gewesen –, und es gab eigentlich keinen Grund, sich so erschöpft zu fühlen.
    Wenn sie sich ihrer Sache auch nicht immer sicher war, so war sie doch generell eine zuversichtliche Frau. Der Brief vom Bösen Wolf aber hatte ihr Gemüt in Aufruhr gebracht. Nach dem Gespräch mit Detective Clark hatte sie den Brief zur Seite gelegt und beschlossen, ihn zu vergessen. Dann hatte sie ihn wieder hervorgeholt und sich gesagt: Du musst was unternehmen. Was genau, konnte sie allerdings nicht sagen. Sie musste die Initiative ergreifen, aber die Initiative wozu?
    Sie hatte alles getan, was Detective Clark ihr geraten hatte. Sie hatte einen Sicherheitsdienst angerufen, der am folgenden Tag eine Alarmanlage in ihrem Haus installieren würde. Sie war auf der Suche nach irgendeinem Kunstfehler, der den Drohbrief ausgelöst haben mochte, ihre Patientenakten durchgegangen. Sie hatte sich das Hirn zermartert, um sich an irgendeine Kränkung zu erinnern, die den Satz erklärte,
du wurdest auserwählt zu sterbe
n. Sie hatte sogar auf der Website des nächstgelegenen Tierheims nachgesehen, ob sie nicht vielleicht einen großen, bissigen Hund zu vergeben hatten. Anschließend hatte sie sich die Nummern einiger Privatdetektive notiert und bei den Verbraucherbewertungen überprüft, wer die besten Beurteilungen bekam, um am Ende die Telefonnummern zweier Männer anzukreuzen. Eine davon hatte sie zur Hälfte gewählt, schließlich aber doch aufgelegt.
    Wenn Karen eines hasste, dann Panik. Schon den Anschein von Panik.
    Während der Praktika im Rahmen ihres Studiums hatte sie ernsthaft in Erwägung gezogen, Unfallärztin zu werden, denn selbst wenn das Blut spritzte, wenn die Schmerzensschreie

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