Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
bei den zwei Frauen dafür entschuldigt und ihnen erklärt, dass das eigentlich nicht ihre Art sei, doch das wäre eine Lüge gewesen, und sie wollte ihre Bekanntschaft mit Rote Eins und Rote Drei nicht mit einer so offensichtlichen Unaufrichtigkeit beginnen. Also hielt sie den Mund und beobachtete die Reaktion der beiden Frauen auf den Anblick dieser Wüste der Verzweiflung.
    Rote Drei ergriff als Erste das Wort.
    »Ich bin Jordan«, sagte sie. »Haben Sie ein Foto von Ihrem Mann und Ihrer Tochter? Ich meine, die gestorben sind?«
    Sarah war irritiert. Die Frage schien so aufdringlich, als habe man sie gebeten, sich nackt auszuziehen.
    »Sicher, aber …«, stammelte sie und wusste nicht weiter.
    Sie trat an ein Bücherregal in der Ecke und holte ein Bild von ihnen zu dritt heraus, das einen Monat vor dem Unfall entstanden war. Wortlos reichte sie es Jordan, die es aufmerksam betrachtete und dann an Karen Jayson weiterreichte. Auch sie sah sich das Foto genau an.
    Es herrschte kurzes Schweigen. Normalerweise, überlegte Sarah, würde man einen Schnappschuss wie den von ihrem Kind, ihrem Mann und ihr selbst an einem Sommertag am Strand kommentieren.
Ach, wie schön!
Oder:
Wie hübsch sie alle sind.
Doch ihr wurde klar, dass solche Bemerkungen den Lebenden vorbehalten waren. Plötzlich war sie nicht direkt wütend, aber aufgewühlt und verlegen, und sie griff nach dem Foto.
    »Wonach suchen Sie?«, fragte Sarah.
    »Nach einem Grund«, erwiderte Karen.
    Sarah brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass Rote Eins nicht davon sprach, wieso ihr Mann und ihre Tochter umgekommen waren. Sie wollte nichts von einem außer Kontrolle geratenen Öllaster und der Willkür des Schicksals wissen.
    »Vielleicht auch nach einer Erklärung«, fügte Jordan hinzu. Auch sie meinte nicht den Unfall.
    »Wie haben Sie mich gefunden?«, fing Sarah an.
    Karen sah Jordan an. Das junge Mädchen zuckte die Achseln. »Ihr Video auf YouTube. Es endete mit einem Bild von einem Grabstein. Ich hab mich an den Computer gesetzt und die beiden Namen zurückverfolgt.«
    Sarah nickte. Das leuchtete auf seltsame, fast mysteriöse Weise ein.
    »Hat nicht allzu lange gedauert«, fuhr Jordan fort. »In der Lokalzeitung war ein Artikel über einen Gedenkgottesdienst auf der Feuerwache. Da war auch ein Farbfoto. Sie waren drauf. Mit diesem …« Jordan deutete auf Sarahs Haar. Sie dachte daran, wie das Haar von Rote Zwei über dem Schwarz der Trauer geleuchtet hatte.
    Sarah hatte das Gefühl, dass sie etwas sagen sollte, blieb jedoch stumm. Nach einem Augenblick verlegener Stille meldete sich Karen zu Wort. »Wir sollten nicht länger hier bleiben«, sagte sie. »Wir müssen an einen sicheren Ort, um zu reden.«
    Sarah wollte etwas erwidern, doch Karen kam ihr zuvor.
    »Hören Sie, als Jordan und ich uns gestern kennengelernt haben, ist uns eines sehr schnell klargeworden: Wenn wir drei zusammen sind, bieten wir noch mehr Angriffsfläche. Zu dritt am selben Ort sind wir für ihn eine wunderbare Zielscheibe.«
    »Dann würden wir genau das tun, was er will. Er braucht nur noch eine Handgranate nach uns zu werfen«, sagte Jordan. »Und bumm! Rote Eins, Rote Zwei und Rote Drei, alle auf einen Streich.« In ihrem Ton mischte sich der Zynismus mit der Angst. Karen verkniff sich eine Bemerkung zu der Idee mit der Handgranate; schließlich war sie nicht mehr und nicht weniger absurd als alles, was mit ihnen geschah.
    Nichts von alledem ergibt einen Sinn. Oder aber alles. Sie war nicht sicher, was.
    »Aber wir müssen trotzdem reden, uns überlegen, was wir machen sollen …«
    »Ich weiß, was wir tun müssen«, murmelte Jordan leise. Karen ignorierte die Bemerkung der Jüngsten in ihrem Trio und konzentrierte sich auf Sarah.
    »Wir müssen irgendwohin, wo wir gemeinsam planen können, ohne dass uns jemand sieht oder hört.«
    Dabei huschte ihr Blick einen Moment zu dem großen Wohnzimmerfenster hinüber.
    »Man kann nie wissen«, sagte sie, »man kann nie wissen, ob er nicht da draußen lauert …«
    Sarah schwirrte der Kopf. Es gab tausend Dinge, die sie sagen wollte, doch ihr kam nichts über die Lippen.
    So sagte sie nur: »Ich hol meinen Mantel.«
    »Hey«, sagte Jordan schnell, »und nehmen Sie die Waffe mit.«

[home]
    16
    E in Mord umfasst drei Stadien, schrieb der Wolf, als er nach einem langen Interview mit dem Kripobeamten in sein Büro zurückgekehrt war, die Tür hinter sich abgeschlossen hatte und ungestört in seinen Überlegungen

Weitere Kostenlose Bücher