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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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erzählen, die nicht nachhallt, wenn man die letzte Seite gelesen hat? Sieht sich der Mörder nicht derselben Frage gegenüber? Autor und Mörder schaffen beide etwas von Bestand. Der Autor will, dass der Leser sich noch lange nach der Lektüre an seine Worte erinnert. Der Mörder erstrebt eine möglichst nachhaltige Wirkung des Todes. Nicht nur für ihn, sondern auch für alle anderen, die von diesem Tod mitbetroffen sind.
    Bei Mord geht es nicht nur darum, einen einzelnen Menschen zu töten. Der Mord soll Wellen schlagen; die Kräusel sollen das Leben vieler Menschen berühren.
    Er trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, als könnte der Tusch dabei helfen, seine Gedanken noch schneller in Worte zu fassen und niederzuschreiben. Einen Moment lang beneidete er Künstler, die einfach eine Linie auf eine leere, weiße Leinwand malen und mit diesem knappen Akt alles definieren, was folgt. Malen, dachte er, das ist leicht. Natürlich bestand die Ähnlichkeit zwischen einem Mörder und einem Künstler darin, dass beide schon bei den ersten skizzenhaften Linien, die sie ziehen, ein klar umrissenes Bild von dem vor Augen haben, was am Ende herauskommen soll. Bei dem Gedanken musste er schmunzeln.
    Dann fing er eine neue Seite an und schrieb:
    Warum ich jede Rote liebe.
    Der Wolf seufzte. Es genügte nicht, den Lesern zu sagen, wie man den Tod herbeiführen wollte. Man musste auch erklären, wieso. Im Märchen ist der Wolf nicht nur auf eine gute Mahlzeit aus, als er Rotkäppchen durch den Wald folgt. Seinen Hunger könnte er jederzeit stillen. Nein, sein eigentlicher Hunger ist von ganz anderer Natur, und wahrlich nicht so leicht zu befriedigen.
    Wieder stockte er. Draußen war es bereits dunkel. Es wurde Abend, und er rechnete jeden Moment mit der Heimkehr von Mrs. Böser Wolf. Jeden Tag um kurz vor sechs das gleiche Ritual. »Ich bin da, Liebling …«, rief sie, sobald sie zur Haustür hereinkam. Der Wolf ließ sich mit der Antwort immer ein bisschen Zeit. Sollte sie ruhig zuerst seinen Mantel am gewohnten Haken sehen, seinen Schirm im Ständer in der Eingangsdiele, dann seine Schuhe, die er rücksichtsvoll neben der Tür zum Wohnzimmer ausgezogen hatte, um sie gegen die Lederpantoffeln zu tauschen. Dort würde ihr Paar, passend zu seinem, auf sie warten. Dann würde sie, selbst wenn sie Einkaufstüten dabeihatte und ein bisschen Hilfe hätte brauchen können, auf Zehenspitzen an seiner Bürotür vorbeischleichen. Er wusste, dass sie sich sofort in die Küche begeben würde, um das Abendessen zu richten. Mrs. Böser Wolf war der festen Überzeugung, dass es seinem Schreibfluss diente, wenn sie ihn überfütterte. Er sah keinen Grund, ihr zu widersprechen.
    Und so rief er, sobald er das verheißungsvolle Scheppern von Töpfen und Pfannen in der Küche hörte, seine Antwort, als bekäme er erst jetzt mit, dass sie zu Hause war.
    »Hey, Schatz! Ich komm gleich!«
    Er wusste, dass seine Frau sich über den Gruß durch die verschlossene Bürotür freute, und so rief er seinen Spruch, egal in welcher Stimmung er war oder was auf der Seite vor ihm passierte. Ob er über etwas Banales wie das Wetter schrieb oder die elektrisierende Frage, wie er sein Opfer zu töten beabsichtigte – immer erhob er seine Stimme, damit sie ihn hören konnte. Jeden Tag sangen sie dieselben Duette:
    Wie war dein Tag?
    Wie läuft’s denn so in der Schule?
    Hast du ordentlich was geschafft?
    Bist du schon dazu gekommen, die Stromrechnung zu bezahlen?
    Im Garten sind ein paar Arbeiten zu erledigen.
    Zum Abendessen morgen mal Lust auf chinesisch?
    Was meinst du? Gucken wir uns noch einen Film im Fernsehen an, oder bist du zu müde?
    Vielleicht sollten wir dieses Jahr mal eine Kreuzfahrt machen. Im Moment gibt es tolle Sonderangebote für die Karibik. Wir haben schon seit Monaten keinen richtigen Urlaub mehr gemacht. Was hältst du davon, was zu buchen und dann darauf zu sparen?
     
    Der Böse Wolf hörte etwas rasseln. Das konnte nur die Haustür sein. Er wartete und hörte den Gruß, mit dem er gerechnet hatte. Dies war für ihn das Zeichen, alle Dateien und Internetseiten zu schließen und seine Texte zu verschlüsseln. Eigentlich war das alles nicht nötig. Die Wand mit den Fotos genügte, um ihn zu belasten – wie der Mann von der Kripo in ihrem Gespräch gesagt hatte. »Mörder – diejenigen, die ihre Taten planen, nicht der kleine Gangster, der den nächstbesten Minimarkt ausraubt oder die Konkurrenz im Drogenhandel mit

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