Der Wolf
sagen, ob sie die Kraft aufbringen würde, die Waffe zu heben und abzudrücken, wenn es so weit war und sie dem Wolf gegenüberstand.
Doch im nächsten Moment sah sie, wie sie die Waffe mit beiden Händen vor sich hielt und dabei eine gebückte Schießposition einnahm.
Eine Sekunde lang fragte sich Sarah, ob eine andere Person die Waffe führte und sie nur als Randfigur danebenstand.
Wann hatte sie zuletzt geatmet? Ihre Lungen schienen zu platzen, und wie eine Schwimmerin, die an die Oberfläche taucht, schnappte sie nach Luft.
Bizarre, widersprüchliche Gedanken jagten ihr durch den Kopf: Ich nehm’s mit dir auf. Ich werde gleich sterben.
Sie wollte etwas Mutiges, Trotziges sagen, doch als sie zu brüllen versuchte: »Komm schon, verdammt, ich warte …«, brachte sie nur ein kaum verständliches Krächzen heraus.
Es läutete an der Tür.
Drei fröhliche Klingeltöne, auf die sie sich keinen Reim machen konnte.
Ein Mörder klingelt an der Haustür?
Sie merkte, wie sie seitlich, fast im Krebsgang hüpfte, als sie, immer noch mit schussbereiter Waffe, das Wohnzimmer durchquerte. An der Haustür blieb sie stehen.
Es klingelte wieder.
Wieso sollte er auch nicht klingeln? Oder klopfen. Oder sie einfach nur beim Namen rufen, um ihr anzukündigen, dass er da war. Hallo-o-o, Sarah! Der Böse Wolf ist da. Ich komme, um dich zu töten …
Plötzlich hatte sie keine Ahnung, was ein Wolf machen würde. Alles, was mit ihr passierte, war ihr ein vollkommenes Rätsel. Wie in
Alice im Wunderland
war oben unten, vorne war hinten, hoch war tief.
Sie merkte, wie sie den Finger fester um den Abzug legte. Ihr kam der Gedanke, einfach zu feuern. Die Kugel dringt durchs Holz und tötet ihn da, wo er steht.
Eigentlich eine gute Idee. Eine richtig gute Idee. Beinahe plausibel.
Sie musste sich zusammenreißen, um nicht loszuprusten. Was für ein Witz, dachte sie. So urkomisch, dass man sich vor Lachen in die Hose machen konnte. Ich erschieß ihn einfach durch die Tür.
Sie zielte genau auf die Stelle, wo sie die Brust des Wolfs vermutete. Dabei ging sie im Kopf die Möglichkeiten durch: Ist er groß? Klein? Wollen ja nicht danebenschießen.
Der Revolver zitterte, krängte hin und her wie ein kleines Boot, das hilflos auf den Wellen tanzt.
Sie sah, wie sie mit der linken Hand nach dem Knauf griff und einen überaus guten Plan zunichtemachte, um etwas überaus Dummes zu tun. Es fühlte sich an, als ließe sie den Tod herein.
Mit einem kräftigen Ruck riss sie die Tür weit auf. Im gleichen Augenblick ließ sie den Knauf los und nahm die Linke zu Hilfe, um den Revolver fest zu packen. Schussbereit beugte sie sich ein wenig vor.
Ihr Finger am Abzug erstarrte.
Von draußen starrten ihr zwei Frauen entgegen. Unter dem fahlen Licht der Eingangslampe sah sie zwei erschrockene Gesichter. Jemand schnappte nach Luft, doch Sarah war nicht sicher, ob es eine der beiden Frauen war oder sie selbst.
Beide rührten sich nicht vom Fleck und gaben keinen Laut von sich. Auch wenn Sarah darin über keine einschlägige Erfahrung verfügte, so wirkte sich die klaffende Mündung eines Revolvers mit gespanntem Hahn auf eine normale Konversation eher erschwerend aus.
Die können nicht der Wolf sein, dachte Sarah. Zwei Wölfe? Doch ihr Finger streichelte den Abzug. Irgendwo in ihrem Kopf wusste sie, dass sich beim leichtesten Druck ein Schuss lösen würde.
Nachdem Sarah einen Herzschlag lang mit dem Knall eines Schusses gerechnet hatte, der eine der späten Besucherinnen töten würde, sah sie sprachlos zu, wie sich eine der Frauen langsam die marineblaue Wollmütze vom Kopf zog und ihr gewelltes, kupferfarbenes Haar ausschüttelte, ohne Sarah und die Waffe auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Dann folgte wie in einer Runde von Kartenspielern die andere, eine ältere Frau mit Sorgenfalten im Gesicht, diesem Beispiel, griff sich ins Haar und zog die Nadeln heraus, so dass es ihr in einer Farbe wie verlöschende Glut glatt und gerade auf die Schulter fiel.
»Hallo, Rote Zwei«, sagte die ältere Frau. »Sie sehen, wer wir sind. Bitte töten Sie uns nicht.«
Sarah schämte sich dafür, wie es im Haus aussah.
Seit Tagen wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie viel Abfall, wie viele leere Schnapsflaschen und Verpackungen von Fertiggerichten, Schokoladenpapierchen und Chipstüten sich angesammelt hatten. Ebenso peinlich war ihr das Kevin-allein-zu-Haus-Alarmsystem unter den Fenstern und vor den Türen. Am liebsten hätte sie sich
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