Der Wolf
jemand in dem Auto saß. Mann oder Frau? Es mochte beides sein. Eine Weile beobachtete sie das Auto und wartete darauf, dass jemand ausstieg und zu einem der Nachbarhäuser lief. Eine Lampe würde angehen, eine Tür geöffnet, bei der Begrüßung würden sich Stimmen erheben, bevor man sich die Hände schüttelte oder umarmte.
So hat vor nicht allzu langer Zeit auch mein Leben ausgesehen.
Sie wartete weiter und zählte die Sekunden, bis sie jeden anderen Gedanken außer der unablässigen Aneinanderreihung von Zahlen aus dem Kopf verbannen konnte.
Das erwartete Szenario blieb aus, und als sie bei sechzig war und die Person immer noch im Auto saß, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Wie bei einem Bild, das langsam an Schärfe gewann, brachte sie Ordnung in ihre Gedanken und gelangte zu einer Reihe von Schlussfolgerungen: Ich bin allein und warte auf einen Mörder. Es ist fast dunkel. Am Bürgersteig gegenüber parkt ein Auto. Jemand, der darin sitzt, beobachtet mich. Er ist nicht hier, um die Nachbarn zu besuchen. Er ist wegen mir da. Als sie die Situation auf diese Formel gebracht hatte, duckte sie sich weg, so dass derjenige da draußen, der sie mit absoluter Sicherheit in mörderischer Absicht angestarrt hatte, sie nicht mehr sehen konnte. Sarah drückte sich keuchend an die Wand und schlich ein kleines Stück zur Seite, um die verschlissene Chintzgardine anzuheben, und spähte erneut zu dem Wagen hinaus.
Inzwischen war es so düster, dass sie nicht mehr klar sehen konnte.
Schatten schnitten wie Rasierklingen quer durch ihre Blickachsen. Wieder wich sie zurück, als könnte sie sich verstecken, dabei kam ihr ein grauenhafter Gedanke: Er kann mich sehen, aber ich umgekehrt nicht ihn.
Sarah zuckte, sie zitterte. Sie dachte: Es ist so weit. Mit dem Daumen zog sie den Hahn an ihrer Waffe zurück. Mit einem unheilvollen klickenden Geräusch schnappte er ein.
In einem Winkel ihres Bewusstseins, in den sich ihr logisches Denken zurückgezogen hatte, begriff sie, dass sich kein Mörder so verhalten würde. Vielmehr wäre er auf der Hut, hätte alles akribisch geplant und führte es präzise aus. Der Moment, in dem sie merkte, dass er neben ihr stand, wäre auch ihr letzter. Der Wolf würde nicht vor ihrem Haus parken und ihr genügend Zeit lassen, sich ordentlich fertig zu machen, um schließlich an ihre Haustür zu klopfen und zu verkünden: Hi! Ich bin der Böse Wolf und bin gekommen, um dich zu töten.
Doch Logik schien eine schwer fassbare Angelegenheit zu sein und ihr aus den Händen zu gleiten, so dass sie alle Muskeln anspannen und schweißgebadet so viel davon festhalten musste, wie ihre Vorstellungskraft hergab.
Moment mal, wandte sie gegen ihre eigenen Argumente ein, genau das tut er doch im Märchen. Rotkäppchen hat ihn direkt vor sich, und sie erkennt nur, dass seine Augen, seine Ohren, seine Nase und schließlich seine Zähne irgendwie anders sind.
Sie reckte den Hals noch einmal vor und warf einen verstohlenen Blick auf den Wagen.
Er war leer.
Die Gestalt war verschwunden.
Wieder zuckte sie zurück. Die Wände kamen auf sie zu und drohten, sie zu zerquetschen. Eine Stimme in ihr, die in Panik war – sie wusste, es kam von den Medikamenten und dem Alkohol und der Verzweiflung –, brüllte sie an: Lauf weg! Jetzt! Sie schaute sich hektisch nach einem Fluchtweg um, auch wenn sie wusste, dass es keinen gab. Einen kurzen Moment lang sah sie es vor sich:
Sarah reißt die Hintertür auf.
Sarah rennt, so schnell sie kann, über den Rasen und setzt mit einem hohen Sprung über den Gartenzaun.
Sarah flieht zwischen den Häusern hindurch. Nachbarn hören ihre verzweifelten Schritte und schreien vor Angst. Jemand holt die Polizei. Mit heulenden Sirenen trifft sie im allerletzten Moment ein.
Sarah ist gerettet.
Sie sog die Luft ein und hielt den Atem an. Die Bilder verblassten.
Sie wusste: Es gibt keinen Fluchtweg. Nicht zur Hintertür, nicht zur Haustür hinaus. Ich kann auch nicht durch die Decke fliegen. Ich kann mich nicht im Keller vergraben. Ich kann mich nicht unsichtbar machen. Sie hatte einen trockenen Mund und Mühe, einen Gegenstand zu fokussieren, als hätten sich ihre Augen selbständig gemacht. Die Pillen fielen ihr aus der Hand und sprangen über den Boden. Die andere Hand mit dem Revolver schien sie nach unten zu ziehen, als hätte das Gewicht der Waffe plötzlich um ein Zehnfaches zugenommen. Die Ängste und Zweifel zuckten wie Stromstöße durch ihren Körper, und sie konnte nicht
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