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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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beiden ein wenig eingeschüchtert; sie schienen sich viel besser unter Kontrolle zu haben und viel mehr beizusteuern als sie, auch wenn die Idee, ihren Verfolger zu töten, Sarah ins Gedächtnis rief, dass sie offenbar als Einzige eine Waffe besaß.
    »Er musste uns erst finden, demnach liegt es nahe, dass wir noch mehr gemeinsam haben. Das kann nicht blanker Zufall sein.«
    »Und wieso nicht?«, fragte Jordan.
    Die drei Frauen sahen einander an. Jede hatte denselben Gedanken. Jede von ihnen fand, dass die anderen beiden ihr kaum weniger ähnlich sein konnten. Abgesehen von ihrer Haarfarbe sprang keine Gemeinsamkeit ins Auge.
    Wieder herrschte Schweigen, während alle drei Frauen ihren eigenen Gedanken nachhingen.
    Und wieder brach die jüngste das Schweigen.
    »Kann schon sein, aber selbst wenn wir es rausbekommen, was dann? Gehen wir zur Polizei?«
    »Das hab ich schon versucht«, sagte Karen. »Falls wir rausfinden würden, wer uns verfolgt, könnten wir natürlich mit dem Namen zur Polizei gehen, und vielleicht könnten die dann etwas tun …«
    Sie zögerte. Dieser logischste Weg schien der unsinnigste zu sein. Wenn du mit dem Irrsinn konfrontiert warst, wie sollte da Logik weiterhelfen?
    Sie sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Ihr ganzes Erwachsenenleben lang hatte sie sich vom Verstand leiten lassen. Es war nicht viel anders, als eine Diagnose zu stellen: Teste dies, teste jenes, ziehe dieses Symptom in Betracht, kombiniere Fachwissen und Erfahrung, und stelle eine Diagnose. Eine plausible Diagnose. Vielleicht keine angenehme Diagnose, aber besser als nichts. Sie schüttelte den Kopf.
    Jordan merkte nur allzu deutlich, dass Karen sich in ihren Überlegungen an einem Abgrund bewegte. Sie betrachtete die Frau und sah in ihr den Inbegriff eines respektablen, gebildeten, verantwortungsvollen und reifen Menschen. Sie hatte gehofft, dass Karen ihnen sagen würde, wo es langging und was genau sie zu tun und zu lassen hätten, weil sie der Typ war, der so etwas wusste. Sie war eine Frau, die einem Teenager als Vorbild hingehalten wurde: jemand, der hart arbeitete und auf den Verlass war. Es machte ihr Angst, als sie bei Rote Eins dieselbe Ratlosigkeit und dieselben nagenden Zweifel sah, die ihr vermutlich selbst ins Gesicht geschrieben standen. Sie drehte sich zu Sarah, um zu sehen, ob diese Gefühle auch in deren Augen zu erkennen waren, doch die Dritte im Bunde lehnte sich zurück und starrte zur Decke, als erhoffte sie sich von dort einen Geistesblitz, eine Eingebung des Himmels, die ihr einen Ausweg wiese. Es ist, als triebe man mit zwei Fremden auf dem offenen Meer, dachte Jordan.
    Doch das behielt sie für sich. Stattdessen platzte sie heraus: »Es gibt nur eine Möglichkeit, uns zu schützen.«
    »Und die wäre?«, fragte Sarah und senkte den Blick, als rutsche sie langsam die Himmelsleiter herunter auf den Boden der Tatsachen zurück.
    »Der Wolf ist gegenüber Rotkäppchen in jeder Hinsicht im Vorteil«, sagte Jordan, »mit einer Ausnahme.«
    »Nämlich?«
    »Er ist ein Gefangener«, antwortete sie.
    »Was?«, stöhnte Karen.
    »Er ist in der Gewalt seiner Wünsche.«
    »Ich kann dir nicht folgen«, sagte Sarah.
    »Worüber stolpert er? Über seine eigenen Begierden.«
    Sarah und Karen starrten Jordan an.
    »Ich hab das Märchen gelesen«, fügte sie rasch hinzu. »Ich hab einen Abend in der Bibliothek verbracht. Ich hab sämtliche Fassungen gelesen.«
    »Verstehe«, sagte Karen enttäuscht. »Aber das ist ein Märchen …«
    Jordan ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern beugte sich vor, während sie schnell weitersprach, als könne sie so den Lärm der Bar besser übertönen. Sie ignorierte Karens skeptischen Einwand. »Und die einzige Version, in der Rotkäppchen am Ende gerettet wird, ist die beschönigte, politisch korrekte, die Mütter ihren Töchtern erzählen. So was wie die verkitschte Disney-Version. Im ursprünglichen Märchen …«
    Sie stockte, als sie die Zweifel in den Gesichtern der anderen sah.
    Jordan nickte. »Schon klar«, sagte sie, obwohl keine der beiden Frauen etwas entgegnet hatte. Sie war sich bewusst, dass sie jung war, vielleicht auch unreif klang, doch mit jugendlichem Elan fuhr sie fort. »Aber das ist unsere einzige Chance. Dafür zu sorgen, dass aus der alten Fassung die neue wird. Die Geschichte, in der er uns alle bei lebendigem Leibe frisst, muss in die Version umgewandelt werden, in der wir gerettet werden.«
    »Klingt gut«, sagte Sarah mit einem sarkastischen

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