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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Mädchen in ihrem Wohnheim, das ein wenig jünger war als sie und weniger darauf erpicht, wahlweise gnadenlos gegen sie zu sticheln oder sie zu schneiden. Zwar hätte Jordan sie nicht als Freundin bezeichnet, doch zumindest war sie jemand, der ihr widerstrebend für kurze Zeit eine Kamera lieh. Jordan vermutete, dass sie dem Mädchen in erster Linie dazu diente, verbotene Freizeitvergnügungen festzuhalten – vielleicht von anderen Mädchen, die mit Jungs aus der Footballmannschaft herummachten oder sich auf wilden Partys betranken und gegen die Schulregeln verstießen. Was auch immer, Jordan war es egal, wozu die Kamera normalerweise diente. Sie brauchte sie für einen ganz bestimmten Zweck.
    So lief sie über den Campus und hob in regelmäßigen Abständen die Kamera hoch, um durch die Linse zurückzuschauen.
    Als sie den richtigen Abstand hatte, blieb sie stehen und sah durch den Sucher. Dann lächelte sie.
    Rasch blickte sie sich um.
    »Hier hast du also gestanden«, flüsterte sie. Sie hob die Hand ein wenig, als wollte sie jemandem die Stelle zeigen.
    Jordan hatte die erste Aufnahme nachgestellt, die der Wolf von ihr gemacht und in seinem YouTube-Video vorgeführt hatte. Die Entfernung war etwa gleich. Auch der Winkel passte. Sie hatte sich bemüht, das Licht abzuschätzen und so auf die Tageszeit zu schließen.
    Sie stand kurz vor einem schmalen Durchgang zwischen dem naturwissenschaftlichen Labor und einem Wohnheim der Jungen. Es war eine Sackgasse, höchstens drei Meter lang und vier Meter breit, die am hinteren Ende an einer grauen, scheinbar überflüssigen Verbindungsmauer der beiden Gebäude endete. Hier standen mehrere Mülltonnen, und die Mauer war mit Graffiti beschmiert – Obszönitäten und angedeutete pornographische Zeichnungen, Telefonnummern und Bekenntnisse unsterblicher Liebe oder Versprechen von oralem Sex. Darin glich sie der typischen Kabinenwand einer öffentlichen Toilette an einer Busstation.
    Beide Gebäude waren im allgegenwärtigen, klassischen Schul- und Collegestil in rotem Backstein gebaut und mit knorrigem Efeu bewachsen. Die Stelle hatte etwas von einer Höhle. Für Müllcontainer, stellte Jordan fest, war sie schlecht geeignet, als vorübergehendes Versteck, während man ein Video dreht, umso besser.
    Sie stellte sich vor, wie es hier ausgesehen hatte, als das Video entstanden war. Muss im letzten Frühling gewesen sein. Die Bäume rundum saftig grün. Und in der Abenddämmerung lag die Gasse noch mehr im Schatten, während ich in den letzten Sonnenstrahlen auf dem Hof deutlich zu erkennen war.
    Sie biss sich auf die Lippe. Es war eine schlaue Wahl für eine heimliche Videoaufnahme.
    Jordan trat ein wenig zurück und blickte erst nach rechts, dann nach links.
Niemand konnte sehen, was du machst, es sei denn, irgendein Schüler wäre zufällig in dem Moment vorbeigekommen und hätte direkt zu dir hinübergeschaut.
    In Gedanken redete sie mit dem Wolf – als sollte er ruhig hören, wie viel sie über ihn herausgefunden hatte. Sie starrte auf die Stelle, an der er vermutlich gestanden hatte. Am liebsten hätte sie etwas Trotziges geflüstert, doch ihr fiel nichts ein. Sie sah ihn vor sich, eine lauernde, dunkle Gestalt, halb Tier, halb Mann, fast eine Cartoonzeichnung, wie er die Kamera sinken ließ und mit gebleckten Wolfszähnen zufrieden grinste. Wieder schweifte ihr Blick über die nähere Umgebung.
Reichlich Gelegenheit zum Parken in der Nebenstraße, gerade mal zwanzig Meter entfernt. Ein paar Schritte nur, und du warst verschwunden. Niemand konnte ahnen, wozu du hergekommen warst, du hast dich vermutlich ziemlich sicher gefühlt.
    Jordan bemühte sich, den Moment der Filmaufnahme minutiös zu rekonstruieren.
    Du konntest hier nicht stundenlang warten, bis ich zufällig vorbeikomme und du auf die Aufnahmetaste drücken kannst. Damit hättest du dich viel zu verdächtig gemacht. Jemand hätte dich entdecken und vielleicht den Wachdienst rufen können. Niemand darf einfach so auf dem Schulgelände rumhängen. Das hättest du nicht riskiert. Der kluge Wolf ist auf der Hut, hab ich recht?
    Sie hatte eine trockene Kehle und räusperte sich.
    Folglich hast du gewusst, wann ich vorbeikomme. Vielleicht nicht genau, aber verdammt nah dran. Du kennst dich mit den Zeiten aus. Meinen Zeiten. Der verschlagene Wolf weiß genau, wann er mich, ohne sich in Schwierigkeiten zu bringen, ausspionieren kann.
    Diese Erkenntnis war aufschlussreich.
    Das Gleiche gilt folglich für Rote Eins

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