Der Wolf
Unterton, den sie nicht beabsichtigt hatte und der nicht hilfreich war. »Bestimmt wartet irgendwo ein wackerer Jäger mit einem scharfen Messer nur darauf, uns zu Hilfe zu eilen …«
Jordan hielt die Hand hoch. Wenigstens kennt Rote Zwei die Geschichte, dachte sie.
»Wir müssen uns selber retten«, erwiderte sie bitter, »das ist unsere einzige Chance.«
»Okay«, meldete sich Karen, »und wie stellen wir das an?«
»So genau weiß ich das auch nicht«, räumte Jordan ein. »Jedenfalls hab ich das Gefühl, dass wir uns keinen Gefallen tun, wenn wir nur rumsitzen und warten, bis der Wolf uns tötet. Ich meine, wenn er uns auflauern kann, wieso dann nicht umgekehrt auch wir ihm?«
»Verlockender Gedanke, aber wie?«, fragte Sarah.
Darauf wusste Jordan keine Antwort, Karen schon. »Da, wo wir eben stehengeblieben waren. Wir finden raus, was uns miteinander verbindet. Wir haben etwas gemein. Über das Offensichtliche hinaus.« Sie strich sich mit der Hand übers Haar. »Da fangen wir an. Und wenn wir das rausgekriegt haben, na ja …«
An dieser Stelle wusste sie nicht weiter. Sie ließ ihre letzten Worte im Stimmengewirr der Bar verhallen.
»Wir brauchen einen Plan«, sagte sie schließlich.
Jordan nickte.
Karen spürte einen Funken Hoffnung. »Jede von uns muss etwas tun. Das, worin sie am besten ist, egal was. Und dann tun wir uns zusammen. Dann haben wir es wenigstens versucht.«
Alle drei wussten sie, wie schwach diese letzten Worte klangen, doch keine sprach es laut aus.
»Und noch etwas«, sagte Karen, deren Stimme sich etwas erholte. »Verhalten wir uns normal …«
»Normal!«, rief Sarah dazwischen. »Ich meine, wie zum Teufel …«
Sie führte die Frage nicht zu Ende.
»Niemand sollte etwas tun, das aus dem Rahmen fällt«, erklärte Karen. »Haltet euch an die Routine, tut alles pünktlich und zur selben Zeit wie immer. Nur das sollte der Wolf mitbekommen.«
»Das ist mir zu hoch«, sagte Sarah.
Karen schloss einen Moment die Augen. Sie konnte selbst nicht fassen, was ihr über die Lippen kam. »Früher oder später«, sagte sie bedächtig, »müssen wir ihn in unsere Nähe locken. Nahe genug, um zu sehen, mit wem wir es zu tun haben.«
Fast hätte ihr der Atem gestockt. Dieser Gedanke war entsetzlich. Sie versteckte die Hände unter der Tischplatte, weil sie fürchtete, dass sie zitterten.
Doch Jordan lächelte. »Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?«, sagte sie. »Leuchtet mir ein.« Eine Weile verfielen die drei Roten in Schweigen. Jede von ihnen stürzte in ihren eigenen Abgrund. Jede war davon überzeugt, die anderen niemals genug verstehen zu können, um mit vereinten Kräften aus der Höhle des Wolfs herauszufinden.
»Was glaubt ihr, wie viel Zeit uns bleibt?«, fragte Sarah.
Die Frage traf jede Rote wie ein Schlag in die Magengrube. Ein Tag. Eine Woche. Ein Monat. Ein Jahr. Woher sollten sie das wissen?
Die drei Frauen starrten einander an. Eine Ärztin mit einem Doppelleben als Comedian in einer Welt, in der nichts mehr komisch war, eine Witwe ohne Ausweg aus der gnadenlosen Trauer, ein Teenager im Teufelskreis der Schicksalsschläge und des eigenen Versagens. Keine von ihnen sah, worin sie sich ähnlich waren, doch jede wusste, dass sie es schnell herausfinden mussten.
»Ich will nicht sterben«, sagte Sarah unvermittelt. Sie war von ihren Worten selbst überrascht, denn bis zu diesem Moment hatte sie geglaubt, sich im Grunde nichts sehnlicher zu wünschen als das.
[home]
18
E ine überaus glückliche Fügung, stellte der Wolf am nächsten Tag fest, wollte es, dass er eine Massenmail vom Verband der Krimiautoren Neuenglands mit einer Einladung zu einer Veranstaltung mit dem wichtigsten Forensiker der Staatspolizei von Massachusetts bekam. Obwohl er der Organisation kurz nach der Veröffentlichung seines ersten Buchs beigetreten war und seitdem pünktlich seine Beiträge zahlte, war er noch nie zu einem der Vorträge gegangen, die der Verband organisierte. Sie dienten dazu, den Mitgliedern bei schwierigen Fragen weiterzuhelfen, die sich im Lauf des Schreibens stellten. Er stand, so hatte er es zu Recht von Anfang an empfunden, über diesen Gebrauchsanweisungswochenenden und zog es vor, auf eigene Faust zu recherchieren. Die örtliche Polizei war immer gern zu Diensten, und auch die Strafverteidiger gaben ihre Expertise weiter, sei es im Sammeln von Beweismaterial oder in der Kunst, Schwachstellen in einer scheinbar wasserdichten Anklage
Weitere Kostenlose Bücher