Der Wolf
ernsthaft davon ausging, dass irgendein Wolf den Mut oder die Dämlichkeit besaß, ihnen hier herein zu folgen. Eine tätowierte Kellnerin in eng anliegendem, schwarzem T-Shirt kam an ihren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Sie sah Jordan mit einem fragenden Blick an und schien sie nach einem Ausweis fragen zu wollen, als Karen sagte: »Meine Tochter nimmt einen Softdrink.« Jordan nickte und fügte hinzu: »Ein Ginger-Ale.« Karen bestellte ein Bier und Sarah zunächst einen Wodka pur, doch dann kamen ihr Bedenken, und sie entschied sich ebenfalls für ein Ginger-Ale.
Die Gothic-Schönheit verdrehte die Augen. »Ladys, das hier ist eine Bar«, sagte sie patzig.
»Na schön«, erwiderte Sarah, »dann geben Sie eine Scheibe Zitrone ins Glas, damit es wie ein richtiger Drink aussieht.«
Darüber mussten die anderen beiden Roten schmunzeln, während die Kellnerin mit säuerlicher Mine von dannen zog. Es war kein toller Witz, dachte Sarah, aber immerhin der Versuch, ein bisschen Humor ins Spiel zu bringen, was ihr seit Monaten nicht mehr gelungen war.
Einen Moment lang schwiegen alle drei, während sie auf die Kellnerin mit ihren Drinks warteten. Die Jüngste im Trio meldete sich als Erste zu Wort.
»Da wären wir also. Und was nun?«
Wieder trat kurzes Schweigen ein, bevor Karen die naheliegende Frage stellte: »Glaubt eine von euch, dass uns hier jemand nur einen blöden Streich spielt? Ich meine, dass alles nur ein Spiel ist und jemand uns in einem grottenschlechten Scherz zur Zielscheibe macht, ohne dass tatsächlich was passiert?«
Sowohl Sarah als auch Jordan wussten, dass jede von ihnen für sich über diese Frage nachgedacht und die Möglichkeit verworfen hatte, doch beide zögerten, es auszusprechen.
In einem Satz fasste Sarah all den Schmerz, der sie zerfraß, zusammen. »Ich glaube nicht«, sagte sie, »dass ich so viel Glück habe.«
Alle schwiegen beklommen. Keine von ihnen hatte das Gefühl, so viel Glück zu haben.
»Demnach …«, fing Karen an und stockte. Es schnürte ihr plötzlich die Kehle zu, ein bisschen wie bei Lampenfieber. Als sie wieder sprechen konnte, klang ihre Stimme spröde wie trockenes Leder. »Wir müssen irgendwie versuchen, uns auf diese ganze Sache einen Reim zu machen.«
Jordan meldete sich zu Wort, auch wenn sie den Eindruck nicht abschütteln konnte, als spräche jemand anderes an ihrer Stelle. »Wie meinst du das? Uns einen Reim darauf machen? Irgend so ein Irrer will uns töten, weil wir rote Haare haben. Der Kerl ist von Rotkäppchen besessen, und wir müssen uns überlegen, was wir dagegen unternehmen. Ich meine, wie in aller Welt soll man verstehen, was in diesem kranken Hirn abgeht? Während wir versuchen, irgendeinen Sinn in dem Schwachsinn zu erkennen, lauert er vielleicht schon irgendwo und reiht uns wie am Schießstand auf, um nur noch abzudrücken. Peng, peng, peng, ihr seid alle mausetot.«
Mit jedem Wort war sie zunehmend in Rage geraten, obwohl sie beinahe im Flüsterton sprach.
»Wir müssen schneller sein als er, wir müssen schneller sein als er, wir müssen gottverdammt schneller sein als er«, fügte sie im Stakkato hinzu, als müsste sie jede von ihnen dreien eigens davon überzeugen.
Karen zuckte zurück. Als Jordan zum ersten Mal davon gesprochen hatte, ihren Verfolger zu töten, hatte sie es ignoriert. Doch nachdem sie nun zu dritt um den Tisch versammelt waren, konnte sie es nicht einfach übergehen.
Sie wusste nicht, wieso sie das nicht als praktikable Lösung ansah. Sie hörte sich antworten, doch ihre eigenen Worte klangen ihr seltsam hohl in den Ohren.
»Sieh mal, Jordan, wir sind keine Mörder. Wir wüssten gar nicht, wie man das macht. Und wir können nicht zu jedem Mittel greifen …«
Sie sprach nicht weiter, weil sie sich albern vorkam und weil sie sah, wie das junge Mädchen energisch den Kopf schüttelte.
Nervös rutschte sie auf dem Stuhl herum. Argumentiere logisch!, meldete sich lautstark eine Stimme in ihr. Doch es kostete sie Kraft, diesem Vorsatz nachzukommen. Sie merkte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte und der Mund trocken wurde. Sie leckte sich über die Lippen und nahm einen Schluck Bier.
»Also, zunächst mal«, fing sie an, »gibt es etwas, das uns miteinander verbindet.« Sie sprach langsam und mit Bedacht. »Wir müssen rausfinden, was.«
»Klar doch, rote Haare«, fiel ihr Jordan ins Wort.
»Nein. Da muss noch mehr sein.«
»Worauf willst du hinaus?«, hakte Sarah nach. Sie fühlte sich von den anderen
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