Der Wolf aus den Highlands
dass Mary womöglich nicht die süße, scheue Gemahlin gewesen war, für die er sie gehalten hatte, fragte sich James, ob sie tatsächlich tot war. Die Leiche, die er zu Grabe getragen hatte, hatte zwar die richtige Größe gehabt, aber das Feuer hatte sie bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Er war davon ausgegangen, dass es Mary war; an einer kleinen, verkohlten Hand hatte der Ehering gesteckt, den er Mary bei ihrer Hochzeit über den Finger gestreift hatte, und es hatte auch ein paar versengte Reste des Gewandes gegeben, das sie an jenem Tag getragen hatte. Doch das ließ noch eine Menge Raum für Zweifel. Die größten Zweifel regten sich bei James, weil er Mary nie die Niedertracht zugetraut hätte, die für solch eine Ränke nötig war, und nicht glauben konnte, dass sie so geduldig war, sich so lange zu verstecken.
Schließlich verdrängte er all die Fragen, die in seinem Kopf herumschwirrten, und schenkte seine Aufmerksamkeit wieder der Schnitzerei. Die langsame, sorgfältige Arbeit würde ihn beruhigen, das tat sie immer, und dabei würde sein Kopf auch wieder klarer werden. Offenbar gab es auf Dunncraig noch weit mehr Geheimnisse, als er gedacht hatte. Bei seiner Jagd nach der Wahrheit musste er ruhig bleiben und durfte keineswegs Argwohn erregen. Er hoffte nur, dass die Wahrheit nicht zeigen würde, was für ein blinder Narr er gewesen war, einem süßen Lächeln und hübschem Erröten zum Opfer gefallen zu sein und dadurch seinen Feinden Tür und Tor geöffnet zu haben.
* * *
»Wo hast du gesteckt, Meggie?«, fragte Annora, als die Kleine neben sie trat. »Hast du denn einen ganzen Eimer Wasser getrunken?«
Meggie schüttelte den Kopf und kicherte. »Nay, ich habe mit dem Mann geredet, der hübsche Bilder ins Holz schnitzt.«
Annora warf einen Blick auf den Keep, dann verzog sie das Gesicht und mahnte: »Du sollst den Mann aber nicht bei seiner Arbeit stören.«
»Er hatte nichts dagegen.«
»Vielleicht war er zu höflich, um dir zu sagen, dass du ihn in Ruhe lassen sollst.«
»Nay, er hat mit mir geredet.«
»Na gut, das war nett von ihm, aber du solltest ihn trotzdem seine Arbeit machen lassen.«
»Er hat gemeint, dass ich wiederkommen und das Holz anfassen darf, wenn meine Hände sauber sind.«
Annora verkniff sich das energische Verbot, das ihr auf der Zunge lag. Der Mann fertigte wirklich herrliche Dinge. Sie konnte gut verstehen, warum Meggie so interessiert war. Außerdem wäre es falsch, dem Kind nur aus Angst um seine Sicherheit die Gelegenheit zu nehmen, sich mit jemandem anzufreunden. Solche Ängste konnten die Lebenslust des Kindes nur dämpfen; allein das Leben auf Dunncraig unter Donnells Herrschaft tat in dieser Hinsicht wahrhaftig schon genug.
»Na gut, du darfst dir seine Werke ansehen, wenn du wieder saubere Hände hast«, sagte sie schließlich. »Sogar öfter, wenn er sagt, dass er nichts dagegen hat. Aber du darfst ihn nicht zu oft stören und ihm nicht die Ohren vollquasseln.«
»Ich rede aber gern.«
»Jeder redet gern, aber der Mann hat viel Arbeit. Dein Vater hat ihn eingestellt, um Dinge zu machen, die Dunncraig verschönern sollen.«
»Dunncraig ist schon schön.«
»Aye, das finde ich auch, aber…«
»Und der Laird ist nicht mein Vater.«
Auch Annora hatte ihre Zweifel an Donnells Behauptung, der Vater des Mädchens zu sein, aber das hätte sie Meggie gegenüber nie zugegeben. »Donnell sagt, dass er es ist«, murmelte sie.
»Er lügt.«
Das tut er, dachte Annora, und zwar vermutlich noch viel häufiger, als sie bislang gedacht hatte, aber so etwas konnte sie Meggie natürlich nicht sagen.
»Meggie, du warst noch ganz klein, als deine Mutter starb«, begann sie, obwohl sie nicht sicher war, was sie dem Kind sagen sollte oder konnte.
»Der Mann ist nicht mein Vater! Ich weiß, dass er meine Mutter geküsst hat, aber das macht ihn noch lange nicht zu meinem Vater.«
Annora nahm Meggie, die inzwischen völlig starr war, in die Arme und streichelte ihr übers Haar.
»Dann ist er eben nicht dein Vater. Aber jetzt beruhige dich bitte wieder, sonst wirst du noch richtig krank. Ich habe doch nicht gesagt, dass du lügst, ich habe mich nur gewundert, dass so ein kleines Kind, wie du es damals warst, so genau weiß, wer sein Vater war.«
»Ich weiß es, weil mein Vater mich nie schlagen würde, und dich auch nicht. Mein Vater war schön, und er hat gelächelt und gelacht und mich geküsst.«
Das passte jedenfalls nicht zu Donnell, dachte Annora. »Aber du hast es
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