Der Wolf
Hausgenossen genommen hatten. Und daran, dass es wohl Frauen
waren, die auf diese Weise den Wolf ins Haus holten – ihn
letztlich zum Hund machten – wurde ich über die Jahre in
Grillenöd vielfach erinnert.
Es waren fast ausnahmslos Studentinnen, die sich um die
Aufzucht und das Wohlergehen von über die Jahre 42 Welpen kümmerten. Die Jungen schliefen mit ihnen im gleichen Zelt, man machte zusammen Schularbeiten, das heißt
die jungen Frauen führten ihre wissenschaftlichen Kladden
und die Jungwölfe lieferten brav Daten, man absolvierte
wunderbare Spielstunden. Herzzerreißende Szenen spielten sich jedes Mal ab, wenn eine Geschwistergruppe oder
Einzeltiere den Weg in die Fremde antraten, um irgendwo
ihren Wolf zu stehen. Simone Fluri, eine Fotografin aus
Biel, Schweiz, und Mutter aller Grillenöder Wolfsmütter,
sagte dazu: »Es waren Stunden von wundersamer Nähe,
in denen wir keine Tier-Mensch-Grenzen mehr gespürt
haben. Wir waren befristet Wölfe ehrenhalber.«
Der Wolf : ein Tier der Superlative
Sehen wir vom Menschen ab, hatte der Wolf unter allen
Säugetieren die größte natürliche Verbreitung. Er lebte einst
in ganz Nordamerika, von den arktischen Inseln und Nordgrönland bis tief nach Mexiko hinein, sowie in Eurasien von
der Polarküste im Norden bis in den Süden Indiens, von
den Britischen Inseln und der Atlantikküste im Westen bis
zum Pazifik und zu den Inseln Japans im Osten. Das ist ein
Gebiet von etwa 70 Millionen Quadratkilometern – mehr
als die Hälfte der gesamten Landoberfläche der Erde.
Wie kein anderes Tier hat der Wolf sein Verbreitungsgebiet auch flächendeckend genutzt und in jeder Form terrestrischer Ökosysteme gelebt: von der baumlosen Tundra im Norden über den Nadel- und Mischwaldgürtel bis
in die Steppen und Wüsten des Südens, ja sogar bis in den
tropischen Regenwald südlich des nördlichen Wendekreises, vom küstennahen Tiefland bis ins Hochgebirge, in den
kältesten und in den wärmsten Regionen der Erde, in der
Wildnis wie in der Kulturlandschaft, in völlig menschenleeren Gebieten wie in unmittelbarer Nachbarschaft des
Menschen.
Ganz seiner ökologischen Potenz entsprechend zeigt der
Wolf auch die größte innerartliche Variabilität aller Tierarten. Wiegt der auf der Arabischen Halbinsel lebende Wolf,
die kleinste Wolfunterart, kaum zwanzig Kilogramm, so
erreichen große Exemplare in Alaska und in Sibirien ein
Gewicht von über achtzig Kilogramm. Und während Grau
die vorherrschende Farbe ihres Fells ist, sind die Wölfe in
manchen Gebieten fast rot, in anderen tiefschwarz, in wieder anderen völlig weiß. Die einen Wölfe töten regelmäßig Beutetiere, die, wie der Elch, zehn- bis fünfzehnmal
größer sein können, als sie selber sind, die anderen leben
nur von Kleinsäugern und Insekten oder ernähren sich
gar von Abfällen des Menschen. Es gibt Wölfe, die in stabilen Rudeln von bis zu zwanzig oder gar noch mehr Tieren leben, und solche, die ein Leben lang allein auf Jagd
gehen, Wölfe, die jeden Kontakt mit Menschen meiden,
und solche, die sich nur noch im Umkreis menschlicher
Siedlungen aufhalten.
Unter allen Tieren war es der Wolf, der sich gegen Ende
der letzten Eiszeit, vor etwa 15 000 Jahren, als erster dem
Menschen anschloß und so zum ersten Haustier wurde,
zum Hund. Als »Hauswolf« breitete er sich dann in Begleitung des Menschen noch weiter aus und besiedelte bald alle
bewohnbaren Lebensräume der fünf Kontinente. Hier leitete sein Vorhandensein jeweils langsam die größte Kulturrevolution in der Geschichte eines jeden Volkes ein : den
Übergang vom freien Leben als nomadisierende Jäger und
Sammler zur Seßhaftigkeit als Bauern und Hirten.
Trotz der engen Bindung des Menschen zum Hund löst
dessen wilder Stammvater wie kein anderes Tier in seinem
Verbreitungsgebiet bei den Menschen zugleich Angst und
Faszination aus. Für die Indianer war der Wolf der Bruder, ein Teil der geehrten Natur, für viele andere Naturvölker ein Totem, der Ursprung ihrer Existenz. Der Mongolenherrscher Dschingis Khan war stolz auf seine Abstammung von dem mythischen Wolf Börta-Tschao, während
Wotan, Kriegsgott der Germanen, von den beiden Wölfen
Geri und Freki begleitet wurde. Bei den Römern der Antike
war die Wölfin als Ziehmutter der Stadtgründer Romulus und Remus Symbol der Aufopferung und der Mütterlichkeit. Für die Bauern des Mittelalters indessen war der
Wolf der leibhaftige Satan, für die damaligen Ritter aber
zugleich die
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