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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Zimen
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wertvollste Beute ihrer wilden Jagden hoch zu
Roß. In unseren Fabeln lassen sich Griesemund und Isegrim humorlos, griesgrämig und nicht selten tölpelhaft vor
allem von dem viel kleineren Reineke, dem Fuchs, überlisten, während im Märchen der böse Wolf blutrünstig die
sechs Zicklein verschlingt – das siebente kann sich verstekken –, ebenso die Großmutter und ein kleines Mädchen mit
rotem Käppchen, die dann freilich, wie wir alle wissen, am
Ende doch noch von dem ach so guten Jägersmann gerettet werden. Später dann Inbegriff desjenigen, der sich im
Daseinskampf durchsetzt, und in dieser Eigenschaft noch
in unserem Jahrhundert politisch mißbraucht, gilt der Wolf
heute manchen Zeitgenossen als letzte Bastion einer vermeintlich intakten nördlichen Wildnis, als verkannter Held
im neuromantischen Traum vom unverdorbenen Leben in
ungeschändeter Natur.
    Diese unterschiedlichen Wolfsbilder werden zudem fast
überall von der Vorstellung überlagert, der Wolf sei eine
gefährliche Bestie, die wahllos Vieh, Weib und Kind anfalle
    – das Raubtier schlechthin. Kein Tier wurde daher so gehaßt,
keines so erbarmungslos verfolgt wie der Wolf. Regelrechte
Kriege wurden gegen ihn geführt, und noch heute entzünden sich an ihm wie an keinem anderen Tier erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Naturnutzern und Naturschützern; zwischen Jägern und Hirten einerseits und denjenigen andererseits, die meinen, wir müßten endlich damit
aufhören, die Natur zu schänden, oder gar damit beginnen, Wiedergutmachung an ihr zu leisten.
    All diese Projektionen des Menschen auf den Wolf haben
mit dem Wolf selbst wenig zu tun. Sie entstammen vielmehr den nur langsam sich wandelnden moralischen Wertvorstellungen innerhalb der verschiedenen menschlichen
Gesellschaften. Wie sonst wäre etwa das Rotkäppchensyndrom in unserem Kulturkreis erklärbar, obwohl der Wolf,
als dessen Verursacher, meistenorts seit hundert und mehr
Jahren verschwunden ist ? Hier hat sich etwas verselbständigt, zu dessen Erklärung es kaum noch der Kenntnisse
über den Wolf bedarf. Moralische Kategorien wie Gut und
Böse, Mutig und Feige, Treu und Falsch, Tugendsam und
Lasterhaft sind jedenfalls weder aus Vorgängen in der Natur
für uns ableitbar noch von uns auf sie übertragbar.
    Trotzdem möchte ich auf eine erste Analyse des Mythos
Wolf in diesem Buch nicht ganz verzichten, obwohl hier eher
der Kulturhistoriker und wohl auch der Psychoanalytiker
gefragt sind. Zuerst aber will ich der Frage nachgehen, wie
dieses Tier, das bei uns Menschen solche Emotionen und
auch solche Energien zu seiner Vernichtung freizusetzen
vermocht hat, wirklich ist. Anhand meiner eigenen Arbeiten über das Verhalten und über die Ökologie des Wolfes,
ergänzt durch die Ergebnisse von Forschungen zahlreicher
Kollegen, vor allem in Nordamerika, werde ich am Ende
des Buches vielleicht dann doch einiges zur Klärung der
Frage beigetragen haben, warum gerade der Wolf für uns
Menschen zum Symbol so vieler ihm eigentlich fremder
Werte geworden ist.
So kam ich auf den Wolf
    Meine erste Begegnung mit Wölfen fand kurz nach Weihnachten 1956 mitten in New York statt. Mit meinen Eltern
und meinen Geschwistern war ich als Vierzehnjähriger
nach stürmischer Überfahrt aus Schweden für ein Jahr in
die USA gekommen. Die Faszination dieses Landes, dieses
gewaltigen Kontinents konnte nicht größer, meine Erwartungen konnten nicht gespannter sein. So eingestimmt, sah
ich kurz vor der Weiterfahrt nach Kalifornien in einer großen Vitrine des Museum of Natural History die grandiose
Inszenierung eines ausgestopften Wolfsrudels, das unter
dem realistisch flackernden Licht der Polarnacht über einen
gefrorenen See lief.
    Dieses Bild war für mich Leben, Abenteuer, Traum zugleich ;
bis heute ist es mir in jedem Detail gegenwärtig : ein Bild
unendlicher Einsamkeit und Freiheit inmitten dieser übervölkerten Irrsinnsstadt, ein Bild, das meine nach all der
verschlungenen Lektüre von Fridtjof Nansen, Sven Hedin
und Jack London stetig gewachsene Sehnsucht nach künftiger Identität hoch oben in nördlicher Wildnis auf den
Punkt brachte.
    Natürlich kam es dann unter der Sonne Kaliforniens,
in dem noch tristen Berlin der späten fünfziger Jahre und
schließlich beim Studium der Zoologie an den lieblichen
Ufern des Zürichsees für eine gute Weile ganz anders. Geistige Ansprüche überwogen ; fast vergessen waren die Jugendträume. Doch als ich für meine Doktorarbeit plötzlich die
Wahl

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