Der Wolf
schaffen, übernahm
man im Oktober 1997 vom Tierpark Bern vier jüngere Tiere,
die zuerst einmal in einem Gatter neben den Alteingesessenen untergebracht wurden. Die Tiere sollten sich kennen
lernen. Aber es ist, wie sich offenbarte, zweierlei, ob man
sich gelegentlich in der Nase oder direkt vor der Schnauze
hat. Als man die zwei Rudel zusammenkommen ließ, kam
es wie es kommen musste. Ab sofort herrschte Krieg. Da
keines der beiden Rudel dem anderen überlegen war – die
leichte Überzahl der alten Wölfe wurde durch die Jugend
und die größere Beweglichkeit der Neuen wettgemacht –
kam es zu keiner schnellen Entscheidung. Doch ab und zu
gelang es dem einen oder anderen Rudel, einen Feind zu
überraschen und von den Seinen zu trennen. Damit war
dann jedes Mal ein Wolfsschicksal besiegelt. Beide Rudel
schrumpften. Im Winter 1997/98 traf die wölfische Intoleranz – das heißt : die arteigene Konsequenz aus der angeborenen Territorialität – eines der beiden jüngeren Weibchen, dessen Tod der Mann von »Wild und Hund« dann
so markerschütternd besang.
Aber das war noch nicht das Ende vom Lied : Ein Jahr
und sechs tote Wölfe später hatte sich zwar einiges geändert, aber keineswegs in Richtung Frieden. Drei alte Rüden
standen jetzt einem jungen und der letzten Wölfin in einem
wackeligen Gleichgewicht der Kräfte gegenüber.
Die Geschichten aus dem Bayerwald lassen mindestens
eine Frage offen : »Hätte man diesen ›Krieg‹ nicht verhindern können ?«
Lassen wir die Wölfe die Antwort geben und machen
dazu einen Sprung über ein paar hundert Kilometer vom
Bayerischen Wald zu einem anderen Wolfsgatter im Tierpark Langenberg bei Zürich.
Es war ein frostig sonniger Tag als wir, Wolfspfleger und
-experten aus dem niederbayerischen Grillenöd, mit gemischten Gefühlen ins Wolfsgatter traten und dort unsere vier
wollpelzigen Mitbringsel absetzten. Das hier residierende
ältere Wolfspaar Peter und Knurre, beide ehemalige Ziehkinder von mir, war nachwuchslos geblieben. Wie würden sie sich verhalten ? Wir drückten uns in Eingreifentfernung in die Winkel des Gatters, hofften auf das Beste
und rechneten mit dem Schlimmsten. Was dann geschah,
zählt zu dem Unwahrscheinlichsten und Wundersamsten,
was ich je erlebt habe.
Peter und Knurre schnellten im gestreckten Wolfs-Galopp
auf »unsere Welpen« zu, würgten im vollen Lauf anverdaute
Nahrung hoch, das typische Welpenfutter. Peter warf uns
einen giftigen Blick der Sorte »Weg-von-meinen-Kindern !«
zu. Die schnellste Zwangsadoption aller Zeiten hatte sich
vor unseren Augen abgespielt.
Was im Bayerischen Wald in frustrierend langen, blutigen Versuchsreihen nicht geglückt war, vollzog sich hier in
Herzschlaggeschwindigkeit : die Erweiterung eines Rudels
(beziehungsweise eines Paares) um neue Wölfe.
Und obwohl letztlich nichts passiert war, das wir nicht
erwartet hatten, waren wir überglücklich. Peter und Knurre
hatten uns gezeigt, wo das Nadelöhr liegt, durch das sich
neue Lebensfäden in ein altes Rudel einziehen lassen : Parentalismus (Elterntrieb) schlägt Territorialismus.
Die Vier waren die Pioniere; es gelang uns, nach demselben Schema etliche Gatter-Rudel aufzufrischen, unter
anderem im Tierpark Schorfheide.
Aber unsere immer gut gefüllte Wolfskinderstube auf
Grillenöd diente keinesfalls nur der Blutauffrischung von
Gefangenschaftsrudeln. Detaillierte wissenschaftliche Beobachtungen bestätigten und konkretisierten unsere Erkenntnisse zum Thema Sozialisation – also zum Beispiel zur Frage :
Wie wird aus einem Wolf ein Zahmwolf oder warum bleibt
er ein Wildwolf?
Um es in der hier gebotenen Kürze darzustellen : Es gibt
so etwas wie eine magische Zahl; Welpen, die bis zu ihrem
16. Lebenstag mit Menschen in Berührung kommen und
positive Erfahrungen machen (Futter, Streicheleinheiten)
entwickelten Zweibeinern gegenüber kein Fluchtverhalten.
Sie begegnen Menschen mit aktiver Unterwerfung, laufen
auf Besucher zu, kurzum: Sie verhalten sich freundlich
bis gesellig.
Ist aber das Fluchtverhalten einmal entwickelt – und nach
unseren Beobachtungen geschieht das schon nach dem 16.
Lebenstag – ist es verdammt schwer, mit einem Wolf eine
»Wolf-zu-Mensch«-Beziehung aufzubauen. Es ist, als hätte
die Ausbildung des Fluchttriebes die Entwicklungs-Chancen für »Menschenfreundlichkeit« und »Zahmheit« ein für
alle Mal gekappt.
Dieses kleine, nur Tage kurze Zeitfenster müssen auch die
ersten Menschen genutzt haben, die sich Wölfe als
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