Der Wolf
den Felsen eine große Tribüne,
von der aus man das ganze Gehege überblicken konnte.
In den folgenden sieben Jahren sollte ich von hier aus in
den frühen Morgenstunden und abends vor Sonnenuntergang bis zum Einbruch der Dunkelheit die Wölfe viele tausend Stunden lang beobachten. Das waren die Zeiten am
Tag, zu denen die Tiere am aktivsten, die Besucher hingegen noch nicht da oder schon wieder weg waren. Damit
ich die Wölfe jederzeit auch tagsüber beobachten konnte,
bauten wir einen Hochstand zwischen dem großen Gehege
und dem kleineren, das wir daneben angelegt hatten. In
das letztere schleppten wir das ganze Reisig der gefällten
Bäume und setzten darunter Wildkaninchen aus. Diese
hielten sich jahrelang dort; den Wölfen boten sie immer
wieder Gelegenheit zur Jagd, wenn sie sich unter dem vielen Holz hervorwagten.
Als das Doppelgehege im August 1971 fertig war, luden
wir einige Freunde und Bekannte sowie alle am Bau beteiligten Arbeiter zu einem Einweihungsfest in das Gehege ein.
Dort ließen wir dann die Wölfe frei, und ich denke, manch
einer der Gäste wunderte sich, daß er nicht gleich gefressen wurde. Während die Wölfe ihr großes neues Gehege
untersuchten, saßen wir um ein Feuer ; das Bier floß reichlich, einige der Holzfäller sangen zur Ziehharmonika oder
diskutierten über Rangordnung bei Wolf und Mensch. Ab
und zu kamen ein Wolf oder zwei vorbei, und die Kinder,
bald nicht mehr so ängstlich von ihren Müttern bewacht,
liefen ihnen hinterher. Es war ein schönes Fest.
Der weggelaufene Wolf
Einige Tage nach dem Einweihungsfest rannte Näschen
weg. Seit unserem Umzug in den Bayerischen Wald war
ich fast jeden Tag mit den Wölfen im Nationalpark unterwegs, so auch am 1. September 1971. Nach langem Aufstieg
machte ich auf einer Lichtung in den Hochlagen Rast und
band alle Wölfe bis auf Näschen fest. Ein Wolf allein geht
nicht eigene Wege. In der Tat legte sich auch Näschen zunächst zu uns ins fahle Gras. Als wir weiterzogen, war er
dann plötzlich nicht mehr da. Das war jedoch nicht ungewöhnlich. Er würde schon kommen, dachte ich und lief
weiter. Aber er kam nicht. Ich rannte zurück, fand aber
keine Spur; auf mein Rufen und unser aller gemeinsames
Heulen kam keine Antwort.
Beunruhigt zog ich mit den anderen zurück zum Gehege.
Dort wartete ich die ganze Nacht, aber Näschen kam nicht.
Tags darauf suchte ich überall in dem Gebiet, in dem er
verschwunden war, und erfuhr dabei, daß ein Förster ihn
am Abend vom Hochsitz aus beobachtet hatte, nicht weit
von der Stelle, wo er weggelaufen war. Anhand einzelner
Spuren konnte ich dann seine ersten Stunden in Freiheit
rekonstruieren. Vermutlich hatte er einen Hirsch aufgestöbert und war ihm nachgejagt, bis er ihn aus den Augen
verloren hatte, war dann noch im Gebiet herumgestreunt
und danach langsam in Richtung Gehege zurückgelaufen.
Ich fuhr zum Gehege zurück, aber zu spät. Touristen erzählten mir, ein Wolf sei an ihnen vorbeigelaufen, aber wo er
jetzt sei, wüßten sie nicht. So ging es in den nächsten Tagen
weiter. Wenn ich im Gelände suchte, hielt Näschen sich
beim Gehege auf, und wenn ich dort wartete, sah man ihn
nahe am Dorf unterhalb der Gehegezone.
In wenigen Tagen wurde er, der sonst unbeschwert zwischen Menschen laufen konnte, zunehmend scheuer, so daß
man ihn immer seltener zu sehen bekam. Waldarbeiter, die
ihn von ihrer Arbeit am Wolfsgehege kannten, erzählten, sie
hätten ihn bereits drei Tage nach seinem Weglaufen gesehen : Etwa hundertfünfzig Meter unterhalb der Stelle, wo
sie arbeiteten, sei er aus dem Hochwald herausgekommen.
Sie hätten ganz still gestanden. Trotzdem habe er sie entdeckt und sei sofort in gebückter Haltung in einem Dikkicht verschwunden.
Näschens Verschwinden konnte der Presse natürlich nicht
verheimlicht werden. Kurz nach unserer Übersiedlung in
den Bayerischen Wald hatte sich »Bild am Sonntag« bereits
einen Schauerbericht geleistet : »Ein Dorf lebt in Angst vor
den Wölfen« ; damit war Waldhäuser gemeint. Mir kam es
vor, als sei derselbe Mann in Hamburg, der vor vier Jahren
aus Anfas Welpenabenteuer eine Sensation gemacht hatte,
wieder am Werk gewesen. Nur hatten diesmal nicht Mütter eilig ihre Kinderwagen in die Häuser geschoben, sondern ängstliche Bauern ihr Vieh in die Ställe getrieben. Und
wie bei Anfas Abenteuer schwor der Journalist, der uns
in Waldhäuser besucht hatte, er habe einen ganz anderen
Bericht abgeliefert. Ich ahnte daher Schlimmes. Die Bevölkerung im
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