Der Wolf
der
Beobachtung von Vorgängen in einer nicht ganz vertrauten
Umgebung – wie es die Natur für die allermeisten von uns
ist. Wenn die eigene Erwartung das tatsächliche Geschehen allzu stark überlagert, kommt es zu solchen Fehlleistungen. Es soll ein Wolf in der Gegend sein! Und aus
einem Geräusch, aus einem Schatten, aus einem Fuchs oder
einem Hund, die alle unter normalen Umständen als solche erkannt worden wären, wird ebendieser Wolf, und zwar
mit großer Gewißheit.
In anderen Situationen, ohne die hochgeschraubte Erwartung, war es gerade umgekehrt : Die Wölfe wurden nicht
als solche erkannt, etwa als ich sie einmal in Kiel an der
Kette durch die Fußgängerzone der Innenstadt führte. Nur
Kinder ließen sich durch Konventionen nicht so leicht täuschen. Das schönste derartige Erlebnis hatten wir im Tierpark Neumünster. Mit der einjährigen Anfa besuchten wir
dort ihre Eltern. Als wir vor dem Wolfszwinger standen,
in dem sich die Eltern befanden, sagte ein etwa zehn Jahre
altes Mädchen zu seiner Mutter, das Tier an der Leine sei
auch ein Wolf. Die Mutter erwiderte recht ungehalten, es
sei ein Schäferhund. »Nein«, sagte das Mädchen, »es ist ein
Wolf. Das sehe ich.« Es standen recht viele Leute um den
Wolfszwinger, und die Mutter schämte sich wohl für ihre
dumme Tochter. Sie zerrte das Mädchen weg, das immer
noch vom Wolf redete. Da sagte ich zu der Frau, ihre Tochter habe recht ; es sei wirklich ein Wolf. Sie drehte sich mit
großen Augen und errötendem Gesicht um, und das Mädchen jubelte. Dann zog die Frau ihre Tochter weiter, und
auch andere Zuschauer verließen recht schnell den Platz.
Kinder waren dagegen bald viele da, und alle wollten Anfa
einmal streicheln, die sich übrigens gar nicht um ihre eigenen Eltern gekümmert hatte.
Nun, im Bayerischen Wald gab es trotz allem auch einige
Wolfsbeobachtungen, die recht zuverlässig erschienen, vor
allem jene von Forstleuten und Waldarbeitern. Demnach
muß Näschen seine Wanderungen im Grenzgebiet immer
weiter und länger ausgedehnt haben. Er kam zwar häufiger
zurück in den Gehegebereich ; wegen seiner großen Scheu
wurde er aber nur selten gesehen und ging dort auch nicht
in die für ihn aufgestellten Fallen. Diese Besuche wurden
schließlich immer seltener. Eine Zeitlang hielt er sich im
Arber- und Ossergebiet auf, etwa dreißig Kilometer nordwestlich vom Gehege. Dort fand ich Kot, der vermutlich
von ihm stammte. Danach hatte er in der Hauptsache vom
Aufbruch der jetzt im Herbst erlegten Hirsche und Rehe
gelebt, vielleicht auch von vereinzelt selbst erbeuteten Rehen.
Daneben enthielt der Kot immer viele Blaubeeren und in
einigen Fällen Obstkeme und Insektenreste. Der Schnee
fiel in diesem Winter spät; ein Aufspüren seiner Fährte
war daher nicht möglich.
Am 10. Januar 1972 berichtete mir dann unser Nachbar,
der die Wölfe gut kannte, er habe Näschen gerade in der
Nähe der Gehegezone schnell die Straße überqueren sehen.
Ich fuhr sofort hin ; da aber noch immer kein Schnee lag,
konnte ich keine Spur entdecken. Also nahm ich Alexander und Mädchen an die Leine und suchte das Gebiet mit
ihnen ab. An mehreren Stellen im Gelände blieben sie stehen, schnupperten lange und zogen dann aufgeregt immer
in Richtung auf das Gehege los. Da wir jedoch gerade von
dort gekommen waren, zog ich die Wölfe in der anderen
Richtung weiter. Am Abend hatten wir noch nichts von Näschen gesehen und kehrten zurück zum Gehege. Da – direkt
am Eingang kam er uns entgegen, wedelte mit dem Schwanz
und sprang an uns hoch, als sei er nicht vier Monate und
zehn Tage über alle Berge gewesen.
Bei uns in der Gegend herrschte Tollwut, und aus Sicherheitgründen nahm ich Näschen fürs erste mit nach Waldhäuser. Er war in recht guter Verfassung, aber der erste
in Gefangenschaft: abgesetzte Kot bestand nur aus trokkenen Blättern, Gras und Fichtennadeln. Er hatte offensichtlich großen Hunger und fraß dann auch riesige Mengen Fleisch.
Näschen.
Rangbeziehungen
Neue Wölfe
Da Mädchen nicht dazu zu bringen war, sich mit einem
ihrer Brüder zu paaren, mußte ich mich nach fremden Welpen umsehen. Der erste, ein Rüde, kam aus Innsbruck
und wurde dem dortigen Zoodirektor zu Ehren Psenner
genannt. Aus Kiel erhielt ich einen weiteren Rüden und
vier Weibchen, die irgendwo in Afghanistan gefunden und
soeben mit sechs anderen Welpen, die in Kiel blieben, aus
Kabul eingeflogen worden waren. Als sie zu uns kamen,
waren sie etwa sechs Wochen alt. Sie wurden sofort
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