Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
und ins Vale ergoss, verblassten gerade die letzten Sterne.
»Mutter hätte diesen Tag geliebt«, sagte Raisa zu Elena und blinzelte in das schräg einfallende Sonnenlicht. »Sie hat die Sonne geliebt, auch wenn sie die Kälte nicht mochte.«
»Hmmm.« Elena schien mit ihren Gedanken woanders zu sein; wahrscheinlich machte sie sich Sorgen um ihren Sohn Averill.
Liebe macht verletzlich, dachte Raisa. Und doch hatte sie sich immer danach gesehnt.
Am frühen Nachmittag überquerten sie die Drynne über eine hohe Brücke, die den tosenden und schäumenden Fluss überspannte. Das Wasser unter ihnen führte all den Schmutz und den Ballast der übervölkerten Stadt im Osten mit sich, auch wenn sie es hier oben nicht riechen konnten.
Wenn ich Königin bin …, setzte Raisa wie so oft in ihren Gedanken an. Und hielt inne.
Ich bin Königin.
In den nördlichen Spirits stiegen sie wieder hoch hinauf, wobei sie immer wieder Blicke auf das grünende Vale unter ihnen erhaschten. Raisa saugte die Aussicht auf die Turmspitzen, Kuppeln und Türmchen des weit entfernten Fellsmarch gierig in sich auf. Die Stadt glitzerte im Sonnenlicht wie die Märchenstadt eines Kindes – einer jener Orte, die sich aufzulösen schienen, wenn man sich ihnen zu sehr näherte.
Ich komme nach Hause, schwor sie sich. Heute Nacht, wenn es nach mir geht.
Nordwestlich des Vales verließen sie den Pfad, der oberhalb des Vales entlangführte, und wendeten sich wieder nach Nordosten, um hinter den Marianna-Gipfel zu gelangen und zwischen den beiden Zwillingsgipfeln dorthin abzusteigen. An der Stelle, wo sich die beiden Pfade trafen, machten sie nun eine Pause, um etwas zu essen und den Pferden etwas Ruhe zu gönnen, bevor sie sich an den langen Gipfelaufstieg wagten.
Raisa ließ ihr Pferd in der Obhut von Night Bird zurück und ging ein kurzes Stück zwischen den Bäumen hindurch zu einer Stelle, von der aus sie einen letzten Blick hinunter ins Vale werfen konnte, bevor sie die Bergflanke umrunden würden und es endgültig außer Sichtweite geriet.
Im Tal wimmelte es nur so von Leuten. Reisende bevölkerten die Straßen und nutzten ihrem Rang entsprechende Verkehrsmittel. Einige ritten auf schönen Pferden und verließen die Straßen, auf denen sie nur langsam vorankamen, um querfeldein schneller ans Ziel zu gelangen. Elegante Kutschen wetteiferten mit den schlichten Pferdewagen, in denen all jene saßen, die ein Girlie für die Fahrt entbehren konnten. Manche waren auch zu Fuß unterwegs, sogar ganze Familien, Mütter und Väter, die kleine Kinder auf den Armen trugen und sich zum Schutz vor dem Staub der Straße Tücher vor das Gesicht gebunden hatten.
Sie verstopften die Straßen, die von Fellsmarch durch das Vale bis hinauf zum Marianna-Gipfel im Norden führten. Die Bürger von Fellsmarch verließen ihre Stadt, um ihrer Königin Lebwohl zu sagen.
Raisa war berührt und überrascht. Marianna war nicht besonders beliebt gewesen, zumindest nicht bei den Menschen in den ärmeren Vierteln der Hauptstadt. Als das Gerücht aufgekommen war, dass Prinzessin Raisa übergangen und Mellony an ihrer Stelle zur Erbin ernannt werden sollte, war es zu Unruhen gekommen.
»Süße Märtyrerin«, flüsterte sie. »Es sieht so aus, als wäre die ganze Stadt unterwegs.«
»Auf jeden Fall ganz Ragmarket und Southbridge. Außerdem natürlich die Blaublütigen.«
Raisa zuckte zusammen und wirbelte herum. Han Alister stand neben ihr und sah ebenfalls hinunter ins Vale. Er konnte sich so lautlos anschleichen wie ein Clan-Krieger.
Er beschattete die Augen mit der Hand, und der Wind zerzauste seine Haare. »Vielleicht noch Westmarket. Roast Meat Hill und die Bottoms.«
»Wie meinst du das?«, fragte sie. »Woher weißt du das?«
»Ich habe Cat Tyburn in die Stadt geschickt«, erklärte Han. »Sie sollte dort das Gerücht streuen, dass Prinzessin Raisa hier wäre und vielleicht Hilfe brauchen könnte. Dass es Leute gäbe, die versuchen würden, ihr den Thron abspenstig zu machen. Oder sie zum Schweigen zu bringen. Oder in Ketten zu legen.« Ansatzweise verfiel er wieder in jene Sprachgewohnheiten, die sie ihm in ihrem Unterricht in Odenford abgewöhnt hatte.
»Was?« Sie reckte den Kopf und sah zu ihm auf. »Nachdem wir uns so viel Mühe gegeben haben, meine Anwesenheit geheim zu halten, hast du die Nachricht in der ganzen Stadt verbreiten lassen?«
Han rieb sich den Nacken. »Glaubst du wirklich, dass Lord Bayar auf die Gerüchte hören würde, die in Ragmarket
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