Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
bargen auch neue Chancen. Und Han hatte vor, sie zu ergreifen – es war die einzige Möglichkeit, hier einen Sieg zu erringen. Die einzige Möglichkeit, um das zu bekommen, was er haben wollte – wenn er sich erst einmal entschieden hatte, was das war.
Das Podest ähnelte einem farbenprächtigen Blumengarten – es war voller Adeliger in ihren schönsten Kleidern. Schließlich konnte man diesem traurigen Anlass auch einen Grund zur Fröhlichkeit abgewinnen: Schon bald würde eine neue Königin über das Vale herrschen.
Irgendjemand hatte dies organisiert, und Han musste herausfinden, wer das war – und warum.
Auf den unteren Hängen des Marianna-Gipfels herrschten die gedämpften Farben vor, in welche die einfachen Leute sich kleideten. Farben, die den Schmutz verbargen, auch wenn die Kleidung mehrmals getragen wurde. Fünftagefarben, hatte Mam immer dazu gesagt.
Es sah aus, als würde der Boden erbeben, als Tausende von Menschen versuchten, einen Platz zu bekommen, von dem aus sie besser sehen konnten. Diejenigen, die zu spät gekommen waren, mussten ein gutes Stück von der Zeremonie entfernt stehen bleiben. Cat würde unter ihnen sein und ihre ganz eigene Magie wirken.
Eine lange Prozession aus berittenen Blaublütigen schlängelte sich auf die Pavillons in der Mitte der Begräbnisstätte zu. Selbst aus dieser Entfernung konnte Han erkennen, dass sie sich ziemlich in Schale geworfen hatten. Es musste sich um jene Gruppe handeln, die die Bahre mit der toten Königin zum Berghang brachte. Die Leute auf den unteren Hängen teilten sich zögernd, um sie durchzulassen. Han war daran gewöhnt, dass bei Hinrichtungen und Beerdigungen von Blaublütigen eine festliche Atmosphäre herrschte – als Abwechslung für diejenigen, die sonst ein eher eintöniges Leben führten. Die Stimmung in dieser Menge schien jedoch grimmig und bedrohlich.
Eine schmale Reihe aus Wachen trennte die gewöhnliche Menschenmenge von den Höherrangigen etwas weiter oben am Hang.
Die Bahre der Königin wurde von einer Ehrenwache aus Blaujacken begleitet. Amon Byrne führte sie an; in den Händen hielt er die Urne mit der Asche seines Vaters. Gleich hinter ihm folgte ein reiterloses schlichtes Armeepferd, in dessen Steigbügeln ein Paar Stiefel verkehrt herum steckten.
Han warf einen Seitenblick auf Rebecca – Raisa – die Königin. Sie hätte eine Elfenkriegerin aus dem Märchen sein können, wie sie da in ihrer magischen Rüstung und wehenden Haaren auf ihrem Pferd saß. Der Grauwolf-Umhang flatterte hinter ihr in der Brise.
Eine Erinnerung kehrte zurück – Rebecca, wie sie aus einer dunklen Gasse in Odenford auf ihn zugestapft kam, die Klinge in der Hand, während hinter ihr ein Möchtegern-Angreifer hingestreckt auf dem Pflaster lag. Rebecca, wie sie gedroht hatte, ihm das Gleiche anzutun, falls er nicht aus dem Weg gehen würde.
Die Bilder schwebten so lange durch seinen Geist, bis ihm fast übel war. War das wirklich ein und dieselbe Person – die Freundin, die er kannte, und die Thronerbin der Fells?
Als er Raisa eingehender musterte, sah er, dass ihre Nase sich rosa gefärbt hatte und in ihren Augen, die auf die Bahre mit der Königin gerichtet waren, ungeweinte Tränen glitzerten.
Er wandte sich ab und unterdrückte eine Welle von Mitgefühl. Die einzigen Worte, die über den Leichen von Mam und Mari gesprochen worden waren, waren die seiner eigenen ungelenken Gebete gewesen – und auch die hatten sich fast unausgesprochen auf seiner Zunge aufgelöst. Was nützte es, einen Schöpfer anzurufen, der zugelassen hatte, dass Mam und Mari verbrannt waren?
Raisa lernte jetzt die gleichen Lektionen, die er schon vor langer Zeit gelernt hatte – darüber, was passieren konnte, wenn man sich mit einem mächtigen Blaublütigen anlegte.
Die Bahre der Königin hatte jetzt den Pavillon erreicht, in dem die Gedenkfeier abgehalten werden sollte. Der in Leinen gehüllte Leichnam wurde auf eine andere, mit Blumen dekorierte Bahre gelegt, die eigens dafür vorbereitet worden war. Korporal Byrne reichte die Urne weiter, die einen Ehrenplatz unterhalb der Bahre der Königin erhielt. Dann stieg er von seinem Pferd, stellte sich zur Ehrenwache und nahm Haltung an. Die Blaublütigen strömten auf ihre wertvollen Plätze dicht am Geschehen.
Es war so weit.
Han sah zum Himmel hoch. Sturmwolken sammelten sich hinter Hanalea und zogen in Streifen über die niedrigeren Gipfel, wie lange Arme, die sich nach der Menge ausstreckten. Der Himmel im
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