Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
über das Schloss und die Stadt unterhalb von ihnen. »Du bist nicht so. Ich dachte nur, es könnte dir dabei helfen herauszufinden, was du wirklich willst. Wofür du zu kämpfen bereit bist. Was du dafür im Gegenzug aufgeben würdest.«
»Man kann nicht alles haben«, sagte sie.
»Ich kann. Und ich werde es. Ich werde einen Weg finden«, erwiderte Han und klang fast so, als versuchte er, sich selbst davon zu überzeugen. Seine für ihn typische Zuversicht, die er sich als Streetlord hart erarbeitet hatte, war wie weggeblasen.
Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und sah ihm in die Augen. »Ich hoffe, du wirst … weiterhin mein Freund sein«, sagte sie. »Ich hoffe, dass mein Rang und das Zeremoniell nicht zwischen uns treten.«
Aber das ist bereits geschehen, verriet seine Miene.
Raisas Herz verkrampfte sich. Was würde sein, wenn er wegging? Wenn er sich gegen sie wandte? Wenn das hier so ein Nimm-an-oder-lass-es-sein-Angebot war? Wie sollte sie dann überleben?
Ich kann alles sein, wenn ich es wirklich will , hatte er gesagt.
»Ich habe etwas für dich«, sagte er und unterbrach ihre panischen Gedanken. »Ein Geschenk. Das ist der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin.«
»Ein Geschenk?« Sie blinzelte ihn überrascht an.
Er warf ihr einen kleinen Beutel aus Hirschleder zu, und fast schien es, als wäre es ihm peinlich.
Im Gegensatz zu Micah war Han nicht der Mensch, der Geschenke machte. Obwohl er ihr in Odenford einmal Blumen gekauft hatte, als er sich zu einer Unterrichtsstunde verspätet hatte und wusste, dass sie wütend sein würde.
Vermutlich hatte er nie so viel Geld gehabt, um Geschenke zu machen.
»Es ist zu deiner Krönung«, erklärte Han. »Dancer hat es angefertigt, also ist es in gewisser Weise von uns beiden.«
»Aber er hat mir doch schon diese wunderschöne Rüstung gemacht«, wandte Raisa ein. »Das war mehr als genug.«
Han räusperte sich. »Na schön. Dann ist es also nur von mir.«
Sie wog den Beutel in der Hand. »Du musst mir nichts schenken.«
»Wieso nicht? Alle schenken dir etwas.« Er sah auf seine Hände. »Die Bayars haben dir so viel Glitzerzeug geschenkt, dass man damit einen ganzen Marktstand bestücken könnte.«
Raisa zog an dem Band des Beutels und steckte einen Finger in die Öffnung. Dann ließ sie den Inhalt in ihre Handfläche gleiten.
Es war ein Ring aus Weißgold, in den Mondsteine, Perlen und Saphire eingearbeitet worden waren.
»Oh!«, hauchte sie. »Der ist wunderschön. Wie bist du darauf gekommen?«
»Er ist einem Ring nachgestaltet, der Hanalea gehört hat«, sagte Han. »Es war ein … ein Lieblingsstück von ihr, schätze ich.« Er zögerte, als wollte er noch mehr sagen, ließ es aber dann bleiben.
Raisa probierte ihn an. Er schien am besten auf ihren Ringfinger zu passen; umso besser, da sie den Wolfsring am Zeigefinger trug. Sie drehte die Hand erst in die eine und dann in die andere Richtung, sodass die Steine das Mondlicht einfingen.
Sie wusste, dass sie ihn nicht annehmen sollte – es war ein zu persönliches, ein zu kostbares Geschenk. Und doch …
Die Schatten unter den Pflanzen um sie herum veränderten sich, graue Körper wurden sichtbar, leuchtende Augen, rasiermesserscharfe Zähne.
Raisa zitterte plötzlich. »Ich wusste gar nicht, dass Hanalea einen solchen Ring besessen hatte«, sagte sie. »Wie kommt es, dass du davon erfahren hast?«
»Ich – äh – habe mit jemandem gesprochen, der eine Art Experte ist, was Hanalea betrifft, und er hat ihn mir beschrieben«, antwortete Han. »Und das ist das, was Dancer daraus gemacht hat.« Er hielt inne, und als Raisa nichts sagte, fügte er hinzu: »Er hat gesagt, dass er ihn noch anpassen kann, wenn er nicht passt.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Raisa. »Danke.«
»Aber erzähl besser niemandem, wer ihn dir gegeben hat«, riet Han ihr. »Sofern du – ich meine, sofern du dich entscheiden solltest, ihn zu tragen.«
»Ich werde ihn tragen.« Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. »Ich werde ihn in Ehren halten. Ich wünschte nur … ich wünschte, wir …«
Als wollte er ihre Worte aufhalten, zog Han sie zu sich heran und drückte ihr seine Lippen so fest auf den Mund, dass es ihr den Atem verschlug. Macht strömte von ihm zu ihr, ungelenkt, aber wirksam, und sie spürte, wie ihr schwindlig wurde. Der Wolfsring an ihrem Finger glühte, als er die Macht in sich aufnahm.
Raisa schlang ihre Arme um seinen Hals und schmiegte ihren Körper an seinen; sie spürte die Spannung, die
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