Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
Lauf der Geschichte nicht ändern, indem wir dir Informationen preisgeben, die du ansonsten nie haben würdest.«
»Das ist nicht sehr hilfreich«, schnappte Raisa. »Mir wurde die Gabe der Prophezeiung versprochen. Aber mit einer Tasche voller Binsenweisheiten und unklaren Warnungen und Versicherungen kann ich nicht regieren. Ihr habt mir gesagt, dass das Grauwolf-Geschlecht an einem seidenen Faden hängt. Ich will wissen, wie ich verhindern kann, dass er reißt.«
Hanalea und Althea wechselten einen Blick.
»Alles, was wir tun können, ist dir dabei zu helfen, das zu erkennen, was in deinem Herzen liegt, Raisa«, antwortete Hanalea weich. »Du hast Zugang zu sämtlichem Wissen und allen Gaben; zu allem, was du benötigst, um überleben zu können. Du musst es nur nutzen. Du wirst die Möglichkeit haben, ein großes Unrecht wiedergutzumachen.«
»Was ist mit meiner Mutter?«, fragte Raisa. »Hatte sie alles, was sie gebraucht hätte? Theoretisch zumindest?«
Wieder sahen sich die Wölfinnen an, als bewegten sie sich an der Grenze des Erlaubten.
»Du musst die ganze Kraft des Grauwolf-Geschlechtes nutzen, um zu siegen«, sagte Althea.
»Es wird die Zeit kommen, da du gezwungen sein wirst, eine Entscheidung zu fällen«, ergänzte Hanalea. »Wenn diese Zeit da ist, dann entscheide dich für die Liebe.«
Da erhoben sich alle Grauwolf-Königinnen gleichzeitig, drehten sich um und trotteten in den Nebel davon.
Raisa sank auf die Fersen, den Kopf gesenkt, ergriffen von der Furcht zu versagen. Was nützte es zu wissen, dass sie gewinnen konnte , wenn sie nicht wusste, wie sie es angehen sollte?
Die Liebe wählen! Als wäre das den Grauwolf-Königinnen jemals möglich gewesen.
Obwohl sie im vergangenen Jahr außerordentlich viel gelernt hatte, war die Zeit doch viel zu kurz. Sie hatte damit gerechnet, noch etliche Jahre der Vorbereitung zu haben. Jahre, in denen sie von ihrer Mutter als Königin hätte lernen können.
Tränen brannten in ihren Augen. Vermutlich hat es noch nie eine so weinerliche Königin gegeben, dachte sie.
Da kam ihr ein Gedanke. Sie könnte weglaufen, wie im Jahr zuvor, als ihre Mutter versucht hatte, sie mit Micah Bayar zu verheiraten. Sie könnte am nächsten Morgen schon fast in Delphi sein und weiter bis Odenford reisen. Sie könnte in die Tempelschule eintreten und eine Geweihte werden.
Und das Grauwolf-Geschlecht würde sich hinter ihr einfach auflösen.
Egal, dachte sie entmutigt, denn was für eine Geweihte würde ich schon abgeben? Ich schaffe es ja nicht einmal, eine einzige Nacht zu meditieren, ganz zu schweigen von einem ganzen Leben.
Es ist nicht gerecht, dachte sie. Ich sollte auf Partys gehen. Ich sollte jede Menge Jungs küssen. Ich bin zu jung, um jetzt schon Königin zu sein. Zu jung, um mich mit Magiern zu messen.
Entspann dich, sagte sie sich. Es ist weit und breit kein Magier zu sehen.
Und dann brachte sie etwas dazu, den Blick zu heben, und sie sah Han Alister am Eingang zum Tempel stehen.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange er schon da stand und sie anstarrte, aber jetzt, da sie ihn entdeckt hatte, wirkte er überrascht. Sein übliches Straßengesicht war verschwunden. Stattdessen flackerte eine wehmütige Verletzlichkeit, eine Art fiebrige und hoffnungslose Begierde in seinen Zügen.
Magret hatte gesagt, dass er einen hungrigen Blick hätte. War es das, was sie gemeint hatte? Aber wem genau galt sein Hunger?
Und dann verschwand dieser Ausdruck plötzlich und wurde durch genau das ersetzt, was er sein Straßengesicht nannte, und Raisa fragte sich, ob sie sich das alles nicht vielleicht nur eingebildet hatte.
Er kam auf sie zu, groß und breitschultrig und ganz in Schwarz gekleidet, wie so häufig in den letzten Tagen. Aber heute Nacht war seine Kleidung ungewöhnlich elegant. Edle Manschetten fielen über seine Hände, und sein Umhang war vorzüglich geschneidert.
»Hoheit«, sagte er und verbeugte sich steif. »Fast Majestät. Zweifelst du daran, den Grauwolfthron zu besteigen?«
Raisa kam auf die Beine und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Wie kommst du hierher? Wie hast du mich gefunden? Ich sollte allein sein.«
»Ich bin von der Seite gekommen«, sagte Han und deutete auf den Rand des Daches, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Er sah sich umständlich um. »Ich dachte, ich würde vielleicht Micah Bayar hier oben finden«, erklärte er.
»Wieso sollte ausgerechnet Micah hier sein?«, schnappte sie.
»Gestern Abend habt ihr so eng
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