Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
sagen, dass ich kratzbürstig und störrisch bin.« Genau das hatte sie schon oft genug gehört, und erst vor Kurzem von ihren Lehrern in Odenford.
»Ja, aber weil Ihr klein seid, unterschätzt man Euch. Und das ist in diesen gefährlichen Zeiten nicht gerade ein Nachteil. Ich würde Euch raten, alle im Ungewissen zu lassen, dann werdet Ihr auch in der Hauptstadt überleben.«
Raisa lächelte; sie wusste, dass sie gerade ein Kompliment erhalten hatte. »Danke, Hauptmann. Aber zuerst einmal muss ich diesen Nachmittag überleben.«
»Hört zu, wenn es Ärger gibt, drückt Euch dicht an den Pferderücken und reitet zur Passhöhe hoch, ohne Euch umzusehen. Ich werde Euch dann folgen, sobald ich kann.«
Natürlich. Genauso wie sein Tripel.
Als Antwort drückte Raisa die Fersen in Switchers Flanken. Die verblüffte Stute riss den Kopf hoch und stolperte vorwärts; so verließen sie das Wäldchen und kehrten auf den Pfad zurück.
Der kurze Wintertag näherte sich bereits seinem Ende, als sie die Baumgrenze erreichten. Während in ihrem Rücken die Sonne langsam hinter der Westmauer verschwand, erstreckten sich vor ihnen lange, blaue Schatten. Ohne den Schutz der Bäume pfiff der Wind geradewegs durch Raisa hindurch. Sie beugte sich etwas nach vorn, als könnte sie die Stute dazu bewegen, schneller zu gehen. Byrne ritt die meiste Zeit voraus und machte den Weg frei. Sie versuchten, diesen letzten langen Anstieg ganz nach oben so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Als sie sich dem Übergang näherten, wurde die Schneedecke niedriger, da der unablässige Wind sie abtrug. Die Sonne tauchte jetzt endgültig hinter der Westmauer unter. Einen Moment lang sah es so aus, als würde die Felswand regelrecht in Flammen stehen, dann brach die Nacht so plötzlich herein, wie es für das Gebirge typisch war.
Schließlich führte der Pfad nicht mehr höher; der lange, steile Anstieg lag hinter ihnen, während der vor ihnen liegende Marisa-Pines-Pass zu beiden Seiten von großen Granitblöcken gesäumt wurde. An seiner schmalsten Stelle war er kaum breiter als ein Trampelpfad. Es ging das Gerücht um, dass vor vielen Jahren eine Bande von Demonai-Kriegern eintausend Soldaten aus dem Süden in diesem Pass aufgehalten hätten.
»Wartet hier«, befahl Byrne. Raisa gehorchte, während Byrne rasch weiterritt, um den Pass auszukundschaften. Raisa zitterte, obwohl die großen Felsblöcke den immer stärker werdenden Wind abhielten. Kurze Zeit später tauchte Byrne fast lautlos wieder aus der Finsternis auf. »Kommt weiter.«
Sie ritten jetzt langsam und hintereinander durch die schmale Engstelle des Passes. Raisa blinzelte an den steilen Felswänden empor und sah zu dem schmalen Himmelsstreifen zwischen ihnen hinauf. Weiter vorn wurde der Weg breiter und öffnete sich zu etwas, das im Sommer eine bezaubernde Wiese sein würde, jetzt jedoch unter einer Schneedecke verborgen lag. Der Mond ging bereits auf. Als er sich über die Berge im Osten schob, tauchte er die Wiese in einen silbrigen Glanz, der so kalt und rein und unbarmherzig schien wie jeder Atemzug, den Raisa in dieser Bergluft machte. Das Prickeln von Magie war deutlich zu spüren.
Sie waren zu Hause.
Irgendwo hinter ihr heulte ein Wolf und überzog Raisas Nacken mit einer Gänsehaut. Andere Wölfe des Rudels antworteten von weiter vorn und rechts von ihr – Stimmen wie eine kalte, herzlose Melodie in der Dunkelheit.
Raisas Herz begann zu hämmern.
Byrne rechts vor ihr war im Mondlicht nur als dunkle Silhouette zu erkennen. Er drehte sich leicht um und sah sie an, als wollte er sich vergewissern, dass es ihr gut ging.
Und dann hörte sie – wie eine schlechte Erinnerung an die Nacht zuvor – das Surren von Armbrüsten, das dumpfe Klatschen, mit dem die Bolzen ihr Ziel fanden. Byrnes Gestalt erschauerte unter der Wucht mehrerer Treffer. Der Wallach bäumte sich nervös auf und schüttelte den Kopf; er schrie, als er ebenfalls getroffen wurde. Byrne klammerte sich noch einen Moment wie eine Klette an den Rücken des Pferdes, dann stürzte er seitwärts aus dem Sattel.
» BYRNE !« Raisas Schrei hallte durch die kleine Schlucht. Ohne auf die Bolzen zu achten, die in wahren Salven an ihr vorbeizischten und gegen die Felsen prallten, drängte sie Switcher zu der Stelle, wo ihr Hauptmann rücklings im Schnee lag. Sie glitt aus dem Sattel und kniete sich neben ihn; sie hob seinen Kopf an. Sein Körper war mit Bolzen gespickt; einer von ihnen steckte auch in seiner
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