Der Wolfsthron: Roman
Blaublütigen sei, die ihn benutzte und wegwarf; die geradewegs über die Menschen der Unterschicht hinwegritt, die sich ihr in den Weg stellten. Er würde für sie nie mehr sein als eine interessante Abwechslung.
Aber die Wirklichkeit kam ihm immer wieder in die Quere.
Zweimal schon hätte er sie beinahe für immer verloren. Einmal im Marisa-Pines-Pass und einmal kurz vor den Toren des Schlosses. Ohne Dancers Rüstung wäre sie jetzt tot oder schwer verletzt.
Immer wieder kramte er die Erinnerung an ihren Einzug in die Stadt hervor – an den zermalmenden Schmerz, an die Leere an jener Stelle, wo sein Herz gewesen war, an die Erkenntnis, dass er erneut darin versagt hatte, jemanden zu beschützen, den er liebte.
Es war, als würde er in einer tiefen Wunde herumstochern und sich vergewissern, dass sie noch nicht verheilt war, sich vergewissern, dass er verletzlich war.
Und dass Raisa es war.
Und so hatte er sich diese unmögliche Aufgabe gestellt.
Sich selbst konnte er schützen – und wenn er darin versagte, nun ja, er war sein ganzes Leben lang bereit gewesen, dafür einen persönlichen Preis zu bezahlen. Aber wie konnte er dafür sorgen, dass Raisa am Leben blieb, wenn so viele Feinde darauf bedacht zu sein schienen, sie zu töten? Wie konnte er mächtig genug werden, um Anspruch auf sie zu erheben – um sie dazu zu bringen, ihn als Bewerber ernsthaft in Betracht zu ziehen? Wie konnte er sie dazu bringen, ihn als ebenbürtig anzusehen – als jemanden, der sich mit ihr in jeder Hinsicht verbünden konnte?
Und wie konnte er das alles schaffen, ohne sie noch mehr in Gefahr zu bringen? Willos Warnungen hallten durch seinen Kopf.
Er kannte die Antworten noch nicht, aber eines wusste er – er würde sie bestimmt keiner Gefahr aussetzen, indem er zuließ, dass sich eine Romanze zwischen ihnen entwickelte, bevor er nicht in der Position war, diese zu verteidigen.
Raisa war in vielen Dingen unglaublich bewandert, aber wie es zwischen Blaublütigen und Straßenläufern zuging, würde sie nie verstehen. Es war auch nie nötig gewesen. Sie schien nicht zu begreifen, dass der geringste Hinweis auf eine Romanze zwischen ihnen dazu führen würde, dass sich sowohl die Clans als auch die Magier auf sie stürzten.
In seinem alten Revier hätte er die Regeln gekannt. Doch wenn er hier seinen bloßen Instinkten folgte, würde das ihnen beiden den Tod bringen.
Wenn du nicht weißt, wohin du gehst, wirst du niemals ankommen, pflegte Jemson zu sagen. Immerhin wusste Han jetzt, wohin er ging und mit wem. Er musste nur noch seinen eigenen Weg finden.
Seine erste Unterrichtsstunde mit Raisa war nicht gut verlaufen. Die Anspannung war einfach zu groß gewesen – so groß, dass man sie hätte aufs Brot streichen und das Ganze als Mahlzeit nehmen können, wie Mam immer gesagt hatte. Raisa war ständig in Bewegung, ging hin und her und gestikulierte mit den Händen, als könnte sie damit die Kluft zwischen ihnen ausfüllen.
Han saß auf einem schlichten Stuhl, die Hände auf den Armlehnen, und hörte nur jedes dritte Wort. Sein geistiges Auge wanderte zu der Rosentätowierung auf ihrem Schlüsselbein, zu ihrer schmalen Taille, zu den grünen Augen, die unter dichten Wimpern lagen, zu den schwarzen Brauen, die sich von der braunen Haut abhoben.
Und es machte alles nur noch schlimmer, dass er sich an ihren frischen Geruch und ihre freimütigen Küsse erinnerte. Es war herrlich gewesen, ein Mädchen zu küssen, das es genauso zu genießen schien wie er.
Von Han’s Räumen führte eine Verbindungstür zu denen der Königin, damit die Dienerin, die eigentlich dort leben sollte, direkt zu ihr gelangen konnte. Wenn Magret in Raisas Gemächern war, um sich um sie zu kümmern, verschloss sie diese Tür und rüttelte mehrmals am Tag daran – eine Warnung für den Magier auf der anderen Seite.
Han hatte das Schloss schon am ersten Tag geknackt. Und dann musste er seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um auf seiner Seite der Tür zu bleiben.
Um Wasser und Essen kümmerte er sich selbst; er holte sich das Wasser von der Pumpe im Innenhof und aß entweder im Speisesaal oder nahm das Essen direkt aus der Küche mit nach oben. Obwohl er sich den Blaublütigen anpassen wollte, konnte er es nicht riskieren, Essen oder Getränke zu sich zu nehmen, die unbeaufsichtigt im Korridor gestanden oder von einem Diener gebracht worden waren. Es gab zu viele Leute, die ihn zu gern tot gesehen hätten, und zu viele raffinierte –
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