Der Wolfsthron: Roman
würde er abwägen, ob er die Frage stellen sollte. »Wieso ist er hier, Raisa? Was seht Ihr in ihm? Wieso hat er Zugang zu Euch und ich nicht?«
Micah streckte die Hand nach Raisas Hand aus, dann riss er sie im letzten Moment zurück, als würde er sich daran erinnern, dass seine Berührung nicht willkommen war. Er beugte das Handgelenk und rieb seine Fingerspitzen gegen die Handfläche, um die Spannung herauszulassen.
»Ihr habt ihn für den Versuch, meinen Vater zu töten, begnadigt«, sprach Micah weiter. »Aber habt Ihr Euch einmal gefragt, wer gerade all die Magier in der Stadt tötet? Muss ich Euch daran erinnern, dass die Morde zu einer Zeit angefangen haben, als er in die Fells zurückgekehrt ist? Und dass die Leichen dort gefunden werden, wo er früher gewohnt hat?«
Raisas Magen machte einen unangenehmen Satz. »Es ist leicht, mit Vorwürfen um sich zu werfen«, sagte sie. »Das ist alles, was ich seit Wochen höre. Ich werde Euch sagen, was ich den Demonai gesagt habe, als sie Eure Familie des Mordes an meiner Mutter beschuldigt haben. Bringt mir Beweise, und ich werde handeln.«
»Wir beobachten ihn«, erwiderte Micah. »Früher oder später wird er einen Fehler machen.«
Für einen langen Moment herrschte erstarrtes Schweigen.
Han hatte recht, dachte Raisa. Wenn die Leute glauben, dass zwischen uns was Ernstes ist, wird dies seinen und vielleicht auch meinen Tod bedeuten.
Sowohl zu deinem als auch zu meinem Wohl musst du so tun, als würdest du mich hassen , hatte er gesagt. Sie war sich nicht sicher, ob sie das schaffen konnte. Aber vielleicht konnte sie ein paar Zweifel säen.
»Hört zu«, sagte sie. »Alister wird kein Problem sein, wenn Ihr es mir überlasst, mit ihm fertigzuwerden. Ich jongliere gerade mit einer Menge konkurrierender Interessen. Ihn in den Rat zu bringen war Teil eines größeren Handels – das kleinere Übel. Es war der Preis, den ich zahlen musste, um ein bisschen Frieden zu bekommen.«
»Ich wusste es!«, rief Micah und schlug sich die Faust in die Handfläche. »Wer unterstützt ihn? Für wen arbeitet er? Für Abelard?«
Raisa schüttelte den Kopf. »Ich werde nichts mehr dazu sagen. Ich habe bereits zu viel erzählt. Und jetzt … wenn es sonst nichts gibt …?« Sie machte Anstalten, sich zu erheben.
Micah hielt eine Hand hoch, um sie zum Bleiben zu bewegen. »Ich habe bereits zugegeben, dass ich wünschte, Ihr hättet Fiona für den Rat vorgeschlagen«, sagte er. »Aber es geht nicht nur darum. Das ist nicht der Grund für dieses Gespräch. Ich versuche nur, Euch hilfreiche Ratschläge zu geben. Ich will nicht, dass Euch etwas geschieht. Ich will das nicht auf mein Gewissen laden.« Sein Gesicht war so blass wie Pergament, die schwarzen Augen leuchteten hart wie Obsidian.
Raisa beugte sich nach vorn. »Micah, wenn Ihr von irgendeiner Gefahr für das Grauwolf-Geschlecht wisst, ist es Eure Pflicht, mir davon zu erzählen. Oder sie abzuwenden. Oder der Wache davon etwas zu sagen.«
Micah schüttelte den Kopf und stieß einen Seufzer aus, dann erhob er sich, die Lippen fest zusammengepresst, das Gesicht trostlos. »Das ist genau das, was ich versuche zu tun – Euch am Leben zu halten. Ich habe alles für Euch riskiert – meine Familie und meine Zukunft. Alles, was Ihr tun müsst, ist nur ein bisschen … Geschmeidigkeit zu zeigen. Aber nein. Ihr werdet dafür sorgen, dass Ihr getötet werdet, und es gibt nichts, das ich dagegen tun könnte.«
Raisa zitterte; ihre Jacke reichte nicht mehr aus, um sie warm zu halten. Es hatte inzwischen – wie viele? – vier oder fünf Angriffe auf ihr Leben gegeben, seit Lord Bayars Attentäter nach Odenford gekommen waren. Wie lange würde es noch dauern, ehe einer von ihnen erfolgreich war?
Graue Schemen lungerten hinter Micah im Schatten des Gartens, zogen ihre Kreise, während ihre Augen das Fackellicht einfingen und es wie Tempelkerzen zurückwarfen.
Ein Wendepunkt. Eine wichtige Entscheidung. Aber welche war die richtige?
Es mochte sein, dass Micah auf Befehl seines Vaters hier war. Er mochte möglicherweise auch gekommen sein, um sie davon zu überzeugen, ihre Entscheidung rückgängig zu machen und Fiona in den Rat zu berufen. Er mochte versuchen, sie einzuschüchtern, damit sie tat, was der Magierrat verlangte. Er mochte hoffen, sie zum Narren halten zu können, indem sie ihn als Brautwerber ernst nahm.
All das war möglich. Aber Micah hatte ihr mehr als einmal das Leben gerettet. Aus welchem Grund auch immer
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