Der Wolfsthron: Roman
dass sie mit dem Rücken zu seiner Brust im Sattel saß. Ihr Kopf hing unter seinem Kinn, und er hatte einen Arm um ihren Körper geschlungen, damit sie nicht herunterrutschte. Sein Bogen befand sich in dem Futteral bei seinem Knie, aber der würde ihm bei diesem Tandemritt nicht viel nützen. Wenn es zu einem Angriff kam, wäre er so gut wie hilflos. Er berührte das Amulett, um sich selbst zu beruhigen.
Han hoffte inständig, dass bereits seine Körperwärme ihr helfen würde. Er hoffte, dass Willo in Marisa Pines sein würde und nicht gerade ein anderes Camp besuchte. Er hoffte, dass sie unterwegs auf keine weiteren Attentäter stießen.
Und er hoffte, dass er Rebecca Morley nicht in den Armen halten musste, während sie starb.
KAPITEL ZEHN
Der Preis des Heilens
I nzwischen war es stockdunkel geworden. Die Vögel hatten ihren abendlichen Gesang eingestellt, und es würde noch Stunden dauern, bevor der Mond hinter einer Wolkenschicht aufging. Es war unnatürlich still, als würde die Welt den Atem anhalten und abwarten, wie alles sich entwickelte. Das einzige Geräusch war das Knirschen von Pferdehufen auf Schnee.
Han hätte Ragger am liebsten die Fersen in die Flanken getrieben und zum Galopp gezwungen, um in Windeseile im Marisa-Pines-Camp zu sein.
Aber ihre Chancen, überhaupt dort anzukommen, waren verschwindend gering. Wenn sie zu langsam ritten, würde Rebecca sterben. Wenn sie zu schnell ritten und Ragger sich ein Bein brach, würde Rebecca sterben. Und wenn sie auf weitere Attentäter stießen, würde Rebecca sterben.
Rebecca hing fast die ganze Zeit still in seinen Armen; sie stöhnte hin und wieder, wenn er gegen sie stieß, aber ansonsten deutete nichts darauf hin, dass sie bei Bewusstsein war. Er spürte, wie sie mehr und mehr von ihm wegdriftete, vor dem Gift eine Art innere Zuflucht suchte, aus der sie möglicherweise nicht mehr zurückkehren würde.
Han konnte sich kaum an Master Leontus’ Vorträge über Heilmagie erinnern, an jene Vorlesungen, in denen er zumeist ziemlich schläfrig gewesen war. Er hätte sich niemals träumen lassen, dieses Zeug irgendwann einmal zu brauchen. Die Clans hatten ihn dazu angeheuert, Menschen zu töten, nicht sie zu heilen. Außerdem, so hatte er gedacht, waren all jene Menschen, die er hätte heilen wollen, bereits tot.
Er hatte sich geirrt.
Han gab sich alle Mühe und konzentrierte sich. Und Stück für Stück kehrte das Wissen zurück. Er sah Leontus vor sich, wie er im Klassenraum auf und ab marschierte und sein Adamsapfel wild hüpfte, während er versuchte, seine skeptischen Zuhörer davon zu überzeugen, Heilen als eine Berufung in Betracht zu ziehen.
Magiebegabte Heiler nehmen die Krankheiten und Verletzungen ihrer Patienten in sich auf. Dies ist mit einem beachtlichen Maß an Schmerz verbunden, mit Leiden und einer Verausgabung von Macht.
Heiler suchen nach Missklängen in den Körpern ihrer Patienten. Sie schaffen Ordnung in dem Chaos und schützen Körper und Geist vor Giften.
Es ist wichtig, dass Heiler während des Heilens Grenzen setzen. Ihr werdet Eurem Patienten nicht helfen können, wenn Ihr Euch völlig verausgabt.
Heiler sind ebenso Lehrer wie Therapeuten. Sie bringen ihren Patienten bei, Widerstand zu leisten.
Heiler sind mutiger als die meisten Heldenkrieger, denn sie machen sich selbst verletzlich. Sie öffnen Kanäle zwischen sich und denen, die sie heilen.
Leontus predigte eifrig seine Überzeugungen, doch sobald er seinen Schülern den Rücken kehrte, machten sie sich über ihn lustig.
Han erinnerte sich nur bruchstückhaft an Leontus’ Zaubersprüche – die sowohl dem Patienten halfen wie auch den Heiler schützten. Er sprach alles, was ihm einfiel, laut aus und hoffte, dass ihm auf diese Weise noch mehr in den Sinn kam.
Rebecca versteifte sich vor ihm, dann zitterte sie, als ein Krampf durch ihren Körper ging. Und dann noch einmal. Han drückte seine Finger auf ihre Wunde und schickte Macht hinein. Der Bereich um die Wunde herum war jetzt eiskalt.
Das Gift verströmte seine Wirkung. Han wusste plötzlich, dass sie es nicht bis nach Marisa Pines schaffen würde.
Ragger machte einen Satz nach vorn; er reagierte auf den plötzlichen Druck von Han’s Knien. Han sprach beruhigend auf den Wallach ein, während er erst seinen Umhang und dann sein Hemd öffnete, ohne auf die Kälte zu achten. Er hob Rebeccas Wollhemd an und zog sie dicht an seine nackte Brust; dann wickelte er seinen Umhang um sie beide, um die Wärme darin
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