Der Wolfsthron: Roman
Sorge«, sagte er leise. »Ich verliere ihn nicht. Bei mir ist er gut aufgehoben.« Er zog sie aus dem Felsspalt und nahm sie in die Arme, wobei er dafür sorgte, dass sie mit den Händen nicht nach dem Dolch greifen oder ihm die Augen auskratzen konnte.
Bei seiner Berührung zuckte sie zusammen, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Einen Augenblick lang wehrte sie sich – es war der Zusammenprall ihrer Willenskräfte –, und dann fügte sie sich; die Augen weit aufgerissen und den Blick auf sein Gesicht gerichtet, zitterte sie wie ein Tier in der Falle.
»Ich bin ein Magier, erinnerst du dich?«, fragte er, und dann strömten die Worte aus ihm heraus wie Wasser aus einem löchrigen Eimer. »Erinnerst du dich daran, wie du mir alles über die Küsse von Magiern erzählt hast? Du hast gesagt, dass sie prickeln. Und dass es gar nicht so übel ist, wenn man sich erst daran gewöhnt hat.« Es kam keine Antwort, und er rechnete auch mit keiner. Aber er redete trotzdem weiter wie ein Wahnsinniger, denn es war das Einzige, das ihm einfiel, um sie in dieser Welt zu halten.
»Gehen wir runter und schauen wir nach Ragger. Ich hab ein paar Vorräte in meinen Satteltaschen. Und dann versuchen wir herauszufinden, wo das ganze Blut herkommt.«
Sie wog so gut wie nichts, aber es war trotzdem schwierig, mit Rebecca in den Armen im Dunkeln über Felsstücke und Spalten zu gehen, und er hatte Angst zu stürzen und sie noch mehr zu verletzen. Sie atmete geräuschvoll, und er wusste, dass er ihr wehtat. Einmal fing sie an sich zu wehren, und er hatte alle Mühe, das Gleichgewicht zu halten und nicht vornüberzukippen und das letzte Stück zum Grund der Schlucht hinunterzurollen.
Als er unten angekommen war, pfiff er nach Ragger. Zu seinem großen Erstaunen tauchte der Wallach tatsächlich mit dem Packpferd im Schlepptau auf, schnaubte allerdings angesichts des Blutes und der vielen Leichen.
Han löste mit einer Hand die Bettrolle und ließ sie an einer Stelle auf den Boden fallen, wo der Wind den Schnee weggefegt hatte. Er legte Rebecca darauf und zog ihr den Umhang aus. Inzwischen war sie trotz seines ständigen Redens bewusstlos geworden. Ihre Wimpern hoben sich dunkel vor der blutleeren Haut ab; sie war so blass, dass er seine Finger unter ihr Kinn hielt, um nach ihrem Puls zu tasten und sich zu vergewissern, dass sie noch lebte.
Während seiner raschen Handgriffe rasten seine Gedanken. Zunächst einmal wusste er nicht, wie viele Attentäter es gab und ob womöglich jeden Moment wieder welche auftauchen konnten. Noch mehr Sorgen machte er sich jedoch darüber, dass Rebecca verbluten könnte, bevor sie das Marisa-Pines-Camp überhaupt erreichten.
Er schnitt das blutverschmierte Hemd mit ihrem Dolch auf. Dann stützte er sie mit einem Arm und begutachtete die Wunde. Die Rosentätowierung unter ihrem Schlüsselbein wirkte blutrot auf der blassen Haut.
Sie war knapp unterhalb des linken Schulterblatts von einem Bolzen getroffen worden; die Wucht des Treffers hatte sie vermutlich vom Pferd geworfen. Sie hatte es geschafft, den Schaft dicht an der Haut abzubrechen, aber die Spitze steckte immer noch tief drin.
Die Wunde hatte inzwischen aufgehört zu bluten. Das Fleisch um den Schaft herum war geschwollen und verschloss die Wunde. Allerdings konnte sie innere Blutungen haben. Er legte sein Ohr dicht an ihre Brust: Ihre Haut fühlte sich weich an seiner stachligen Wange an. Ihre Atemzüge klangen normal, zumindest nicht feucht, und es gab auch keinerlei Hinweise darauf, dass Luft durch die Wunde nach außen drang. Also war die Lunge vielleicht verschont geblieben. Sie hatte auch gar nicht so viel Blut verloren. Alles sah danach aus, als ob sie die Verletzung überleben müsste, sofern er sie zu einem Heiler brachte.
Aber irgendetwas stimmte nicht. Sie wirkte schwach und verwirrt, fast so, als hätte die Wunde zu eitern begonnen. Konnte es doch am Blutverlust liegen? Sie war schließlich ziemlich klein.
Er musterte das Fleisch um den Bolzenschaft und drückte seine Finger auf die Wunde. Rebecca stöhnte und versuchte, sich wegzudrehen. Er packte sein Amulett und schickte einen Hauch von Macht in die Wunde, um sie zu erforschen. Die Macht verschwand sofort. Er versuchte es erneut, aber es war das Gleiche. Noch ein drittes Mal, diesmal stärker als zuvor, und die Macht zischte zwischen seinen Fingern hindurch wie vom Wind verwehter Rauch.
Was zum …? Es war, als würde irgendetwas die Macht abwehren oder aufsaugen, bevor
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