Der Wolfstrank
ihnen mit der Wahrheit gekommen wäre. Das kam für sie also nicht in Frage, und eine andere Lösung fiel ihr nicht ein.
Für besondere Gelegenheiten stand immer eine mit Schnaps gefüllte Flasche im Schrank. Sie stammte noch von ihrem verstorbenen Mann. Er war so etwas wie ein männliches Kräuterweib gewesen. Seine Getränke hatte er selbst gebrannt. Seiner Meinung nach waren sie ideale Medizin gewesen. Sie halfen gegen Unwohlsein und Seelenschmerz. In einer Lebensmittelkammer standen ebenfalls noch einige Flaschen in Reserve.
Marlene King war keine Schnapstrinkerin. Sie hätte nie gedacht, dass sie das Zeug mal probieren würde. In diesem Fall übersprang sie die Brücke. Sie wollte ihn trinken. Sie musste die Unordnung ihres Magens verscheuchen.
Die Flasche hatte schon Staub angesetzt. Es war ihr auch egal. Schlecht würde das Zeug nicht werden. Die Flasche war verkorkt. Das Getränk darin schimmerte gelblich. Schon von außen her sah es ziemlich dickflüssig aus.
Sie hatte sich ein normales Glas mitgebracht. Das Zeug gluckerte hinein. Als das Glas zur Hälfte gefüllt war, zog sie die Flasche zurück und erschrak, dass so viel hineingelaufen war. Auch im Glas sah es gelblich aus. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Mann dem Getränk Honig zugesetzt hatte. Das war zu sehen.
Marlene fasste das Glas mit beiden Händen an. Sie führte es langsam zum Mund und nippte zunächst nur, um das Getränk zu probieren.
Es schmeckte süßlich. Die Schärfe spürte sie erst, als sie einen größeren Schluck getrunken hatte und das Zeug wie Öl durch die Kehle rann.
Für einen Moment hielt sie die Augen geschlossen. Sie lächelte dabei sogar. Dann kippte sie nach, verzog das Gesicht, musste husten und schüttelte sich.
Welch ein Zeug!
Die Nachwirkung hatte es in sich. Sie breitete sich in ihrem Magen aus, sie räumte auf, und Marlene konnte nicht vermeiden, dass sie im nächsten Moment zwei Mal aufstieß. Das Blut war ihr in den Kopf geschossen. Feuchtigkeit saß in ihren Augen fest, sie zog die Nase hoch und atmete einige Male tief durch. Danach schüttelte sie sich und überlegte, ob es ihr jetzt besser ging. Im Moment noch nicht, die Wirkung trat erst später ein, da erfasste die Wärme ihren gesamten Körper, und es ging ihr tatsächlich besser. Dieser Selbstgebraute war wirklich so etwas wie Medizin, da hatte ihr verstorbener Mann schon Recht behalten.
Einen zweiten Schluck verschmähte sie. Der eine reichte ihr aus. Es ging ihr besser. Das Zeug schien sogar einen Teil der Angst vertrieben zu haben.
Am Küchentisch blieb sie sitzen. Es war ihr Platz. Von ihm aus sah sie das Fenster und konnte hindurchschauen. Im hellen Licht des Tages bis hin zum Waldrand. Das war zu dieser nächtlichen Stunde nicht möglich. Die Dunkelheit hielt alles umfangen und machte die Welt zu einem Schattengespenst, in dessen Zentrum die unheimlichsten und unglaublichsten Dinge verborgen waren. Etwas, von dem man nicht sprach, das es nicht geben konnte, aber sie wusste es besser. Damit kehrten ihre Gedanken wieder zu Lucy, der Enkelin, zurück.
Marlene blickte auf ihre zitternden Hände. Lucy war gegangen. Nicht einfach so. Sie war geholt worden, und es hatte ihr seltsamerweise nichts ausgemacht. Das zu begreifen, war für Marlene unmöglich. Es gab keine logische Erklärung, und die Dunkelheit wollte ihr ebenfalls keine Antwort geben, obwohl sie am Himmel ein Loch zu haben schien. Kreisrund war der Ausschnitt, aber es war kein Loch. Der Vollmond stand dort und schickte sein kaltes Licht auf die Erde.
Marlene brauchte nicht aufzustehen, um ihn zu sehen. Er schien wie für sie gemacht, und sein Kreis lockte sie an. Sie sah ihn. Sie sah die Schatten auf seiner Oberfläche, und sie erinnerte sich daran, welche märchenhaften Geschichten über ihn geschrieben worden waren. Die Menschen gaben dem Mond an vielem die Schuld. Er besaß auch Kraft. Ebbe und Flut waren auf ihn zurückzuführen. Es gab nicht wenige Menschen, die unter ihm litten.
Auch in den Märchen spielte er eine Rolle. Und wie in einem Märchen kam sie sich vor. Nein, das war schon mehr als das. Sie sah es als eine böse Legende an, die keinen guten Schluss haben musste wie die meisten der Märchen, die man den Kindern erzählte.
Auch sie hatte hin und wieder in den Vollmond-Nächten unter Schlafstörungen gelitten. In dieser Nacht war es schlimmer, viel schlimmer, und so fragte sie sich, ob Lucy nur deshalb geholt worden war, weil der Vollmond am Himmel stand.
Durch ihren
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