Der Wolfstrank
eigentlich nicht geben sollte oder konnte, hatte die Regie übernommen.
Sie schloss die Tür, leise und in Gedanken versunken. Marlene wusste auch nicht, ob sie sich über Lucy’s Rückkehr freuen sollte oder nicht. Es kam ihr alles so fremd vor. Sie fragte sich, ob sich das Verhältnis zu ihrer Enkelin wieder normalisieren würde.
Sie schaute Lucy an.
Die Zwölfjährige gab sich ganz natürlich. Sie strich mit einer lässigen Handbewegung einige Locken aus der Stirn und nickte in Richtung der offenen Küchentür. Im Raum dahinter brannte das Licht. Der Schein fiel bis in den Flur hinein.
»Kann ich was trinken, Großmutter?«
»Aber sicher kannst du das – komm!« Marlene hatte versucht, ihrer Stimme einen normalen Klang zu geben. Sie hoffte auch, es geschafft zu haben, aber ihre Gedanken drehten sich nach wie vor um das kurzzeitige Verschwinden ihrer Enkelin.
Das Mädchen betrat die Küche und schaute sich dort um wie eine Fremde. Die Schnapsflasche stand noch auf dem Tisch und ebenfalls das Glas.
»Hast du etwas getrunken?«
»Das musste ich. Es hat mir gut getan, Kind.«
»Ich will aber nicht.«
»Keine Sorge, du bekommst einen Saft. Setz dich hin, ich bringe ihn dir.«
Lucy nahm am Küchentisch Platz, und zwar dort, wo sie eigentlich immer saß. Hier fühlte sie sich wohl, und auch jetzt schien sie völlig normal zu sein. Sie schaute sich um, sie streckte ihre Beine aus, und Marlene sah den Schmutz aus dem Wald an ihren flachen Schuhen, die mehr Pantoffeln glichen.
Marlene stellte das mit Saft gefüllte Glas vor ihre Enkelin, die sich mit einem Nicken bedankte. Dann schaute sie zu, wie das Kind trank. Lucy hatte großen Durst. Sie trank das hohe Glas fast leer, und als Marlene fragte, ob sie noch einen Schluck haben wollte, schüttelte sie den Kopf.
»Ich freue mich so, dass du wieder bei mir bist, Kind. Ich habe mir große Sorgen gemacht.«
»Ach, das war doch nicht nötig.«
Die Frau lachte, obwohl ihr nicht danach zumute war. »Das sagst du so, Kind. Versetz dich mal in meine Lage. Was hättest du getan, wenn deine beste Freundin plötzlich von einem Wolf oder einem ähnlichen Tier mitten in der Nacht abgeholt worden wäre?«
Lucy erwiderte zunächst nichts. Sie schaute ihrer Großmutter ins Gesicht. Nach einer Weile lächelte sie und meinte: »Es ist nichts passiert.«
»Ha, das sagst du. Aber es hätte etwas passieren können, das darfst du nie vergessen. Ich habe gezittert. Ich habe gebetet. Ich bin beinahe verrückt geworden, und jetzt sitzen wir hier in der Küche beisammen, als wäre nichts geschehen. Das kann ich wirklich nicht begreifen. Es hängt auch nicht damit zusammen, dass ich viel älter bin als du. So etwas kann es nicht geben. Das darf es auch nicht geben, denke ich mir.«
»Warum denn nicht?«
Die schlichte Frage brachte Marlene King etwas aus dem Konzept. Sie suchte nach den richtigen Worten. Ihre Hände fuhren dabei über die glatte Tischplatte hinweg. »So etwas gehört nicht in unser Leben hinein, Kind. Das sind Dinge, die nur in den Geschichten und Märchen passieren.«
»Meinst du?«
Marlene hatte den leicht spöttischen Klang in der Stimme nicht überhört. Sie begann sich zu ärgern, weil sie sich zudem unsicher fühlte.
»Ja, das meine ich«, sagte sie trotzdem und bekräftigte die Antwort durch ein Nicken. »Das lasse ich mir auch nicht nehmen. Was hier passierte, gehört nicht in den normalen Alltag.«
»Für mich schon.«
»Und wieso?«
»Es gibt doch viele Wunder, Großmutter.«
»Aha. Und du glaubst, dass dein Erlebnis so etwas wie ein Wunder gewesen ist?«
»Ja, das glaube ich.«
Marlene King wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie konnte es wahrlich nicht als ein Wunder ansehen, für sie war es nach wie vor einfach nur schrecklich.
Aber ihre Enkelin verspürte keine Angst. Sie saß ihr gegenüber, und auf dem Gesicht malte sich ein Lächeln ab, das ihr die Erinnerung an das Geschehen schickte.
Der Wolf war für sie nach wie vor ein grausames Tier. Er griff normalerweise keine Menschen an, aber wenn er Hunger hatte, vergaß er das. Nur eben nicht hier, nicht in Mitteleuropa, sondern mehr im Osten. Da las man immer wieder vom Auftauchen der Wölfe, wenn sie in kleine, abgeschiedene Dörfer eindrangen.
»Was hat er dir angetan?«, fragte Marlene King direkt.
»Nichts, Großmutter.«
»Ha, das soll ich dir glauben?«
»Ja, du musst es. Oder siehst du etwas? Schau mich an, mir ist nichts passiert.«
Marlene hob die Schultern. »Zumindest
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