Der Wolfstrank
Krankenwagen, den wir auch haben mussten, wenn alles normal lief.
Es war normal gelaufen.
Und für uns war etwas passiert, das wir bisher noch nicht so erlebt hatten. Dem Arzt war es tatsächlich mit Hilfe eines Mittels gelungen, die Bestie zu betäuben.
Er selbst war davon überrascht, schüttelte den Kopf und flüsterte: »Verdammt, das ist eine Bombe gewesen.« Er lachte, weil er es noch immer nicht fassen konnte. Mit starrem Blick schaute er auf die Bestie, die leblos vor uns lag.
Sie war noch immer angekettet und durch die Handschellen gefesselt. Das Fangeisen konnten wir lösen, denn Suko, der Tüftler, beschäftigte sich mit dem Schloss. Es war primitiv, aber man brauchte einen Schlüssel. Aus einem gefundenen Stück Draht bog ihn Suko zurecht, und nach einigem Werkeln hatte er es geschafft, das Schloss zu öffnen. Der Arzt schaute sich auch das verletzte Bein an und konnte darüber nur den Kopf schütteln.
»Was sagen Sie?«, fragte ich.
»Das sieht grauenhaft aus. Irgendwann wäre das Bein ab gewesen.«
»Ich denke, dass wir Sie am Morgen noch brauchen werden«, sagte ich.
»Ach ja?«
»Wenn er wieder seine menschliche Gestalt zurückgewonnen hat, müssen Sie sich um die Verletzung kümmern.«
»Nein, Sinclair, so geht das nicht. Ich habe ab morgen Urlaub. Gegen Nachmittag fliege ich mit meiner Frau nach Spanien. Das kann auch ein Kollege übernehmen. Zum Glück weiß ich ja, wer Sie sind. So kann mich wenig erschüttern.«
»Okay, dann halten wir es so.«
»Danke, das ist wunderbar.«
Wir ließen den Werwolf gefesselt. Suko und ich hoben den Körper an, der alles andere als leicht war. Dann schleppten wir ihn dem Ausgang der Röhre entgegen und legten ihn auf eine Trage, mit der zusammen er im Wagen verschwand.
»Einer muss bei ihm bleiben – sicherheitshalber«, sagte Suko.
»Du?«
»Klar. Dann nimm du den Wagen.«
Ich war einverstanden. Wir klatschten uns ab. Ich ging zum Rover. Mir war klar, dass ich in der Nacht keinen tiefen Schlaf mehr finden würde. Vor allen Dingen nicht bei mir in der Wohnung. Ich würde die Stunden in der Nähe des Werwolfs verbringen. In einem unterirdischen Zellentrakt des Yard, in dem es ausbruchsichere Zellen gab.
Der Kollege Smith hatte auf mich gewartet. Er war blass und litt noch immer unter dem Erlebten. »Das war ja wie in einem Horror-Film, Sir.«
»Klar, das können Sie so sehen. Nur würde ich sagen, dass die Realität noch schlimmer ist.«
»Und Sie haben mit solchen Dingen immer zu tun?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Meistens.«
»Soll ich Sie beneiden?«
»Bestimmt nicht.«
»Danke.« Er ging. Wahrscheinlich dachte er darüber nach, welche Überraschungen die Welt noch für ihn bereithielt.
Ich stieg in den Rover und musste daran denken, dass der Fall erst jetzt richtig begonnen hatte. Jedenfalls hatten wir wieder ein verdammtes Problem am Hals...
***
»Darf ich eintreten, Großmutter?«
Es war eine schlichte Frage. Allerdings sorgte sie bei Marlene King für einen Schauer. Wieder hatte sie den Eindruck, neben sich zu stehen. Sie blickte nach vom und damit in das Gesicht ihrer Enkelin, die im Licht stand und eigentlich so aussah wie immer. Sie hatte sich nicht verändert. Noch immer wirkte sie so unschuldig. Das blonde Lockenhaar glänzte im Licht. Sie trug noch immer ihren Bademantel. Marlene bemerkte wohl, dass er einige Verschmutzungen auswies, ansonsten jedoch in Ordnung war.
Wie auch Lucy. Auf ihrem runden, noch kindlichem Gesicht lag ein Lächeln. Es hätte auch ein Strahlen sein können, denn sie wirkte so, als hätte sie das Licht des Mondes mit ihrem Gesicht eingefangen, das sich sogar in ihren Augen widerspiegelte.
»Darf ich eintreten?«, wiederholte sie.
Marlene erwachte aus ihrer Erstarrung. »Ja, natürlich, Kind. Komm, du bist hier zu Hause.« Zögerlich streckte sie der Enkelin die Hand entgegen.
Lucy übersah sie. Nur zwei Schritte brauchte sie zurückzulegen, dann stand sie im Haus. Ihre Großmutter schloss die Tür noch nicht. Sie blickte in die Dunkelheit jenseits des Lichtscheins hinein, um zu sehen, ob sich dort etwas bewegte oder lauerte.
Nein, das war nichts. Sie konnte nichts ausmachen. Allem Anschein nach war Lucy allein gekommen. Es gab keinen Wolf. Es gab auch kein anderes Tier, das sie begleitet hätte. Man hatte sie freigelassen. Marlene wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. In dieser Nacht lief alles verkehrt. Da war die normale Welt auf den Kopf gestellt worden. Das, was es
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