Der Wolkenatlas (German Edition)
ins Meer gehen. Ich habe einmal zugesehen, wie sie einen Passagier verschlangen. Er hatte, so wie Sie, seine Sicherheit vernachlässigt u. fiel über Bord. Wir hörten seine Schreie. Die großen Weißen spielen mit ihrem Mittagessen, zernagen es langsam, hier ein Bein, ein Theilchen dort … Dieser arme Wicht blieb länger am Leben, als Sie es sich vorstellen können. Denken Sie drüber nach.» Er schloss die Thür zu meinem Sarge. Boerhaave ist, wie alle Tyrannen u. Gewaltmenschen, stolz auf die Verabscheuungswürdigkeit, die seinen üblen Ruf begründet.
Sonnabend, 16. November ~
Mein Schicksal hat mir die bis heute größten Unannehmlichkeiten meiner Reise aufgebürdet. Ein Schatten des alten Rēkohu hat mich , der als sein einziges Begehr Stille u. Verschwiegenheit nennt, wegen Argwohns u. Gerüchtemacherei an den Pranger gezerrt. Dabei sind christliches Gottvertrauen u. fortdauerndes Unglück das einzige, dessen ich mich schuldig bekenne. Genau ein Monat ist nun vergangen, seit ich am Tage unserer Abreise aus Neusüdwales diesen heiteren Satz niederschrieb: «Ich erwarte eine ereignißlose u. langweilige Reise.» Wie mich diese Worte doch verhöhnen! Niemals werde ich die letzten achtzehn Stunden vergessen, aber da ich weder schlafen noch denken kann (u. Henry ist nun zu Bette), bleibt mir als einziger Weg aus der Schlaflosigkeit, mein Los auf diesen theilnahmsvollen Seiten zu verfluchen.
Letzte Nacht zog ich mich «hundemüde» in meine Kajüte zurück. Nach meinem Nachtgebete löschte ich das Licht u. sank, eingelullt von den unzähligen Geräuschen des Schiffes, in einen sanften Dämmerschlaf, als eine heisere Stimme, in meinem Sarge!, mich weckte. Ich riß vor Schreck die Augen auf. «Mr. Ewing», beschwor mich das heiße Flüstern, «nicht fürchten … Mr. Ewing … keine Gefahr, nicht schreien, bitte, Sir.»
Ich fuhr unwillkürlich hoch u. stieß mit dem Kopfe gegen die Balkendecke. Im schwachen Licht, das durch die beiden Ritzen meiner verzogenen Thür fiel, u. im Schimmer der Sterne sah ich, wie eine Trosse sich schlangengleich von selbst abwickelte u. eine schwarze Gestalt sich daraus erhob wie ein Toter beim Erschallen der letzten Posaune! Eine kräftige Hand schwebte durch die Finsterniß auf mich zu u. versiegelte meine Lippen, bevor ich einen Schrei ausstoßen konnte. Der Angreifer zischte: «Missa Ewing, keine Gefahr, Sie sicher, ich Freund von Mr. D’Arnoq … Sie wissen, er Christ … bitte, still!»
Die Vernunft gewann schließlich die Oberhand über meine Furcht. Ein Mensch, nicht etwa ein Geist, verbarg sich in meiner Kajüte. Wenn er mir wegen meiner Werthsachen, meines Hutes oder meiner Schuhe die Kehle durchschneiden wollte, wäre ich bereits tot. Wenn es sich um einen blinden Passagier handelte, dann war nicht mein Leben in Gefahr, sondern seines. Seiner gebrochenen Sprache, seinem schattenhaften Umriß u. seinem Geruche nach vermuthete ich, daß der blinde Passagier ein Inder war, allein auf einem Schiffe mit fünfzig Weißen. Nun denn. Ich nickte langsam, um anzuzeigen, daß ich nicht um Hülfe schreien würde.
Die Hand gab behutsam meinen Mund frei. «Ich heiße Autua», sagte er. «Sie kennen ich, Sie gesehen ich, ja, Sie Mitleid mit ich.» Ich frug ihn, wovon er eigentlich rede. «Maori peitschen ich, Sie gesehen.» Mein Gedächtnis überwand die Absonderlichkeit meiner Lage, u. ich erinnerte mich an den Moriori, der von dem «Eidechsenkönig» ausgepeitscht worden war. Das ermuthigte ihn. «Guter Mensch Sie … Sie guter Mensch sagen Mr. D’Arnoq … gestern abend er versteckt ich in Kajüte hier … ich fliehen … helfen Sie, Mr. Ewing.» Nun entrang sich meinen Lippen ein Stöhnen! Seine Hand legte sich wieder auf meinen Mund. «Sie nicht helfen … ich Totgefahr.»
Allzu wahr, dachte ich, u. überdies wirst du mich mit dir ins Verderben reißen, sofern ich Cpt. Molyneux nicht von meiner Unschuld überzeugen kann! (Ich brannte förmlich vor Groll über Mr. D’Arnoqs Handlungsweise u. tue es noch. Er soll seine «edlen Wilden» gefälligst selbst retten u. dies nicht unbetheiligten Zuschauern überlassen!) Ich sagte dem blinden Passagiere, daß er bereits «in Totgefahr» sei. Die Prophetess sei ein Kauffahrteyschiff, kein «geheimer Pfad» für befreite Sclaven.
«Ich gut Seemann», betheuerte der Schwarze, «ich verdiene Überfahrt!» Schön u. gut, erwiderte ich (an seiner Behauptung zweifelnd, er sei ein Seemann von hohen Graden)
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