Der Wolkenatlas (German Edition)
ich sahen zu, wie die Castilier für ihren Landsmann die katholischen Sterberiten celebrierten, bevor sie den Sack zunähten u. den Leichnam unter Thränen u. schwermüthigen Adios!- Rufen der Tiefe übergaben. «Gefühlsselige Welsche», bemerkte Henry u. entbot mir zum zweiten Male eine angenehme Nachtruhe. Ich sehnte mich danach, meinen Freund in das Geheimniß um den Inder einzuweihen, hielt aber meine Zunge im Zaume, um ihn nicht mit meiner Mitthäterschaft zu belasten.
Als ich von dem traurigen Schauplatze zurückkehrte, sah ich, daß in der Kombüse Licht brannte. Finbar schläft dort, «um Langfinger abzuwehren», doch auch er war von den Aufregungen der Nacht wachgerüttelt worden. Mir fiel ein, daß der blinde Passagier vermuthlich seit anderthalb Tagen nichts gegessen hatte – ein furchterregender Gedanke, denn zu welcher bestialischen That könnte ein Wilder nicht von seinem leeren Magen getrieben werden? Möglicherweise würde mein Handeln schon am nächsten Tage gegen mich sprechen, doch ich erzählte dem Koch, bohrender Hunger raube mir den Schlaf, u. ergatterte (wegen der ungewöhnlichen Stunde für das Doppelte des üblichen Preises) einen Teller mit Sauerkraut, Wurst u. süßen Brötchen so hart wie Kanonenkugeln.
Als ich in die enge Kajüte zurückkam, dankte mir der Wilde für meine Fürsorge u. aß die derbe Hausmannskost, als wäre es ein Präsidentenfestmahl. Ich verriet ihm meine wahren Beweggründe nicht, nämlich, je voller sein Magen, desto geringer seine Neigung, mich zu verspeisen, sondern frug ihn statt dessen, warum er mich während seiner Auspeitschung angelächelt habe. «Schmerz ist stark, ja, aber Freundauge mehr stark.» Ich bedeutete ihm, daß er so gut wie nichts über mich wisse u. ich nichts über ihn. Er zeigte auf seine Augen u. dann auf die meinen, als wäre diese einfache Geste eine umfassende Erklärung.
Während die Mittelwache langsam voranschritt, frischte der Wind auf; die Schiffsbalken ächzten, die See peitschte u. schwappte über das Deck. Schon bald tropfte Meerwasser in meinen Sarg, rann an den Wänden hinunter u. benäßte meine Bettdecke. «Du hättest dir ein trockneres Schlupfloch wählen sollen», flüsterte ich, um zu prüfen, ob der blinde Passagier wach war. «Sicher besser wie trocken, Missa Ewing», murmelte er, ebenso hellwach wie ich. Warum, so frug ich, sei er in dem indischen Weiler so unbarmherzig geprügelt worden? Längeres Schweigen breitete sich aus. «Ich gesehen zu viel von Welt, ich nicht guter Sclave.» Um die Seekrankheit während jener trostlosen Stunden in Schach zu halten, entlockte ich dem blinden Passagiere seine Geschichte. (Überdies kann ich meine Neugierde nicht abstreiten.) Sein Pidgin überlieferte seine Erzählung nur bruchstückhaft, so daß ich mich in meinem Bemühen auf die Niederlegung ihres wesentlichen Kernes beschränken werde.
Die Schiffe der Weißen unterwarfen, wie Mr. D’Arnoq berichtete, das alte Rēkohu dem Wandel, aber sie brachten auch Wunder mit. Während seiner Kindheit sehnte Autua sich danach, mehr über die bleichen Leute zu erfahren, die von Orten herkamen, deren Vorhandensein zu Zeiten seines Großvaters dem Reiche der Mythen zugeordnet wurde. Autua behauptet, sein Vater sei unter den Eingeborenen gewesen, denen Lt. Broughtons Landungstrupp in der Skirmish Bay begegnete, u. daß er diese Geschichte während seiner Kindheit immer wieder erzählt bekommen habe: von dem «großen Albatros», der durch den morgendlichen Nebel zog, seinen hell gefiederten, auf merkwürdige Weise miteinander verbundenen Dienern, welche mit rückwärts gewandten Gesichtern zum Ufer paddelten; vom Geschnatter der Albatros-Diener (eine Vogelsprache?); ihrem «Rauchatem»; ihrer abscheulichen Verletzung des Tapu, das Fremden verbietet, Kanus zu berühren (das Berühren belegt die Schiffe mit einem Fluche u. macht sie so seeuntüchtig, als hätte man sie mit einer Axt behandelt); von den nachfolgenden heftigen Auseinandersetzungen; den «Knallstöcken», deren magischer Zorn einen Mann am Strande töten konnte, u. von dem leuchtenden Tuche in Oceanblau, Wolkenweiß u. Blutrot, das die Diener an einem großen Stab hinaufzogen, bevor sie zurück zu dem großen Albatros paddelten. (Die Fahne wurde wieder eingeholt u. einem Häuptling geschenkt, der sie stolz trug, bis ihn die Scrofulose dahinraffte.)
Autua hatte einen Onkel, Koche, der, etwa um 1825, auf einem Bostoner Robbenfänger fuhr. (Der blinde Passagier ist sich
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