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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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seines genauen Alters nicht sicher.) Moriori waren auf solchen Schiffen geschätzte Besatzungsmitglieder, denn anstatt durch kriegerische Tapferkeit verdienten sich die Männer von Rēkohu «ihre Sporen» bei der Robbenjagd u. mit schwimmerischen Glanzleistungen. (Um eine Braut zu erlangen, mußte ein junger Mann zum Beispiel hinab auf den Meeresgrund tauchen u. mit einer Languste in jeder Hand u. einer dritten im Mund zurückkehren.) Es soll hinzugefügt werden, daß jüngst entdeckte Polynesier stets eine leichte Beuthe für scrupellose Capitaine abgeben. Autuas Onkel Koche kehrte nach fünf Jahren zurück, gekleidet wie ein Pakeha, mit Ringen in den Ohren, einem bescheidenen Beutel mit Dollars u. Reales, beherrscht von fremdländischen Sitten (das «Rauchatmen» war darunter), mißtönenden Flüchen u. Geschichten von Städten u. Sehenswürdigkeiten, zu sonderbar, um sie in der Sprache der Moriori zu beschreiben.
    Autua schwor sich, auf dem nächsten Schiffe anzuheuern, das die Ocean Bay verließ, u. diese exotischen Orte selbst zu sehen. Sein Onkel überredete den Zweiten Officier auf einem französischen Walfänger, den zehnjährigen (?) Autua als Schiffsjungen mitzunehmen. In seiner nun folgenden Laufbahn auf See sah er die Eisberge der Antarctis, in blutige Stücke zerlegte Wale u. Fässer mit Walratöl; während einer Flaute jagte er auf den lavagrauen Encantadas Riesenschildkröten; in Sydney sah er prachtvolle Gebäude, Parks, von Pferden gezogene Wagen, Damen mit Hüthen u. die Wunder der Civilisation; er verschiffte Opium von Calcutta nach Canton, überlebte die Ruhr in Batavia; verlor ein halbes Ohr in einem Geplänkel mit Mexicanern vor dem Altare in Santa Cruz; überlebte einen Schiffbruch am Cap Horn u. sah Rio de Janeiro, obgleich er dort nicht an Land ging. An allen diesen Orten wurde er Zeuge der gleichgültigen Roheit, mit der die hellen Rassen den dunklen begegnen.
    Im Sommer 1835 kehrte Autua nach Rēkohu zurück, ein welterfahrener junger Mann von ungefähr zwanzig Jahren. Er beabsichtigte, sich eine einheimische Braut zu nehmen, ein Haus zu errichten u. ein paar Morgen Land zu bestellen, aber um die Wintersonnenwende desselben Jahres war, wie Mr.   D’Arnoq berichtet, jeder Moriori, der nicht den Tod gefunden hatte, ein Sclave der Maori. Die Jahre, welche der Heimkehrer unter Mannschaften aus allen Völkern verbracht hatte, erhöhten keineswegs sein Ansehen bei den Invasoren. (Ich bemerkte, daß die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkte erfolgt sei. «Nein, Missa Ewing, Rēkohu gerufen zurück ich, so ich sehe seinen Tod, so», er tippte sich an die Stirn, «ich kenne Wahrheit.»)
    Autuas Herr war besagter, mit Eidechsen tatauierter Maori mit Namen Kupaka, der seinen entsetzten, gebrochenen Sclaven erklärte, er werde sie befreien von ihren falschen Götzen («Haben eure Götter euch errettet?» höhnte er), ihrer verderbten Sprache («Meine Peitsche wird euch reines Maori lehren!») u. ihrem verseuchten Blute («Inzucht hat euer ursprüngliches mana verwässert!»). Fortan waren eheliche Verbindungen zwischen Moriori verboten, u. alle von Maori-Männern mit Moriori-Frauen gezeugten Nachkommen wurden zu Maori erklärt. Die ersten, die gegen die neuen Gesetze verstießen, wurden auf grausige Weise hingerichtet, u. die Überlebenden lebten in jenem Zustande der Lethargie, der aus unbarmherziger Unterdrückung resultiert. Autua rodete Kupakas Land, säte Weizen u. hüthete seine Schweine, bis er sich genügend Vertrauen erworben hatte, um seine Flucht zu bewerkstelligen. («Geheime Orte auf Rēkohu, Missa Ewing, Mulden, Schluchten, Höhlen tief in Motoporoporo-Wald, so dicht, Hunde nicht können wittern dich.» Ich vermuthe, der Krater, in den ich fiel, ist ein solch geheimer Ort.)
    Ein Jahr später wurde er wieder eingefangen, aber Moriori-Sclaven waren inzwischen zu knapp geworden, um sie willkürlich abzuschlachten. Die niedriggeborenen Maori mußten nun, sehr zu ihrem Verdruß, gemeinsam mit den Leibeigenen arbeiten. («Verließen wir das Land unserer Ahnen in Aotearoa etwa für diesen elendigen Felsen?» beklagten sie sich.) Autua floh erneut, u. während dieses zweiten Aufenthalts in Freiheit gewährte ihm Mr.   D’Arnoq, mit nicht geringem Risiko für den letzteren, für einige Monate heimlichen Unterschlupf. In dieser Zeit wurde Autua getauft u. dem Herrn zugewandt.
    Nach einem Jahr u. sechs Monaten fingen Kupakas Leute den Flüchtling erneut ein,

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