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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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nicht verstand.
    Mit einem gequälten Schmerzenslaut drehte der Sohn der Straßen sich auf den Rücken, um ihre Wange zu streicheln, doch die chemische Reaktion hatte jetzt Elektras Gesicht erreicht, und es verbrannte ihm unter den Fingern.
    »Fil!« Beth rutschte die Böschung hinab auf die Sandbank und schleppte sich zu ihm hinüber. »Fil! Was kann ich tun? Was kann ich bloß tun ?«, schrie sie ihn an, verzweifelt, idiotisch. »Was kann ich tun?«
    Sie ließ sich neben ihn fallen und wiegte seinen Kopf in den Händen. Seine Haut war übersät mit Schnittwunden, und die Verbrennung an seinem Handgelenk hatte das Wolkenkratzertattoo beinahe ausgelöscht. Flusswasser sickerte aus seinem Mund, als er versuchte, zu antworten.
    »Was kann ich tun?« , wisperte sie in sein nasses Haar.
    »Weißt du, was sie gesagt hat?«, keuchte er, nachdem er mehrere Liter schlammiges Wasser ausgespien hatte. Ein gewisses Erstaunen lag auf seinem Gesicht. »Sie hat gesagt: ›Wenn du schon mit diesen weißen Dreckskerlen in den Krieg ziehst, solltest du ihnen lieber beibringen, wie man tanzt.‹« Sein Kopf sackte auf ihren Schoß, die Augen fielen ihm zu. Doch seine Brust hob und senkte sich weiter. Er war ohnmächtig, aber er lebte.
    Plötzlich hörte Beth ein Flattern, ein Geräusch wie von Taubenflügeln.
    »Na los, Mädchen«, wehte eine Stimme auf einer mülldunstschweren Atemwolke zu ihr herab. »Weitere Wölfe sind bereits unterwegs, und wir sind beileibe nicht in der Verfassung, gegen sie zu kämpfen. Überlass ihn mir.«
    Eine Heerschar dicker grauer Tauben landete auf Fils Körper, und Beth spürte, wie Dutzende kleiner Krallen nach ihrer Jeans, ihrem Kapuzenpulli, ihren Haaren griffen.
    »Komm«, flüsterte Gossenglas, ganz heiser vor Anstrengung.
    Als die Tauben sie in die Luft hoben, schaute Beth auf schimmernde Körper unter ihr, auf flackernde Lichter: Ezechiel und Victor organisierten den Rückzug. Das Maul eines Skelettwolfs regte sich im seichten Wasser. Doch Beth wusste, an welchen Anblick sie sich am stärksten erinnern, welches Bild sie in jedem kurzen Moment der Ruhe heimsuchen würde …
    … die Bruchstücke: die winzigen, winzigen Scherben und Splitter der Männer und Frauen und Kinder, die sie selbst hierhergeführt hatte. Zermahlenes Glas, zertrümmerter Stein und Blut.

Kapitel 37
    Das Mondlicht legte sich fahl auf die Statuen, die zwischen den Grabsteinen aufragten. Der tiefe Schattenfall ließ ihre unbewegten Gesichter müde aussehen. Ein leises Geräusch wehte im Wind: ein langsames, regelmäßiges Atmen, hier und da noch ein Schnarchen. Zusammengesunken in ihren Strafhäuten standen die Bordsteinpriester da und schliefen.
    Es war sehr früh am Morgen. Sie hatten die ganze letzte Nacht durchgeschuftet.
    Das Schlagen steinerner Schwingen hatte den Friedhof erfüllt, und einer nach dem andern hatten die Priester den Blick gehoben. Ezechiel hatte schweigend den ersten Leichnam gebracht: einen Jungen, hineingeboren in die Statue eines viktorianischen Gelehrten. Er hatte den Jungen direkt vor Petris abgesetzt, als wäre das vollkommen selbstverständlich. Petris nickte, zum Zeichen, dass er die Bürde akzeptierte. Er betrachtete die Klauenscharten in Ezechiels Steinpanzer mit einem gewissen Neid.
    Das also ist aus mir geworden? , fragte er sich. Ein Bestatter? So schnell landet das Schwert in der Faust eines andern?
    Auf den ersten Leichnam ( Lasulo , sagte sich Petris, darauf bedacht, sich an den Namen zu erinnern) folgten weitere. Ihre noch lebenden Kampfgenossen brachten sie, balancierten sie steif auf den Schultern oder schleppten sie auf notdürftig gezimmerten Pritschen durch das taunasse Gras. Die Priester des Friedhofs rührten sich, um zu helfen. Niemand sprach. Brüder sahen einander ins Auge; Ehemänner mit starren Mienen versorgten schweigend die Kriegswunden ihrer Frauen. Die letzten Worte, die sie ihnen entgegengeschleudert hatten, waren gemein gewesen, Worte wie Sklavin und Hure und Ketzerin , doch jetzt war nicht die Zeit, um diesen Streit neu zu entfachen, nicht vor den Toten, die es zu zählen und zu begraben galt.
    Niemand brauchte zu sprechen. Jeder wusste, was zu tun war.
    Sie ächzten und murmelten Flüche, während sie die Gefallenen auf die leeren Sockel hoben. Sie mischten Mörtel an und schmolzen Bronze, je nach den Materialien der Toten, und verankerten sie damit sicher an ihren Plätzen. Hier und da blieb einer kurz stehen, ungläubig angesichts der schieren Anzahl der in ihren

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