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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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leeren Eierschalen in ihren Augenhöhlen blickten an Beth vorbei auf einen ohnmächtigen, hageren jungen Mann, der mitten unter einem dichten Schwarm Tauben hing und eine Spur von Blut in die Luft tropfte. »Glaubst du wirklich, sie würde mit dir nicht dasselbe machen?«
    Die Kreuzschraffur einer Dachziegelfläche wischte unter ihnen vorbei, ganz in Gelb getaucht vom Licht gewöhnlicher, sprachloser Lampen. Kurz schimmerten die Fenster von Hochhäusern auf, dann waren sie wieder verschwunden. Im tiefen Gleitflug ging es über eine Mülldeponie: Haufen kaputter Fernseher und Mikrowellen, Berge von Altmetall. Darin verhakte Plastiktüten wogten wie Laub. Ströme von Lösungsmitteln und Regenwasser schnitten sich in die Landschaft.
    Kaum hatten die Tauben sie abgesetzt, rannte Beth los, stolperte schlitternd durch die schlammigen Abfälle hinüber zu Fil, der zusammengerollt auf dem Boden lag, mit dem Rücken zu ihr. Der Draht hatte ihm die halbe Haut vom Leib gepeitscht, und ein großer Lappen hing herunter, beiseitegezogen wie ein grotesker Vorhang.
    Sie kam taumelnd zum Stehen und kniete sich neben ihn. Sein Gesicht war schlaff, er war noch immer bewusstlos. Keuchend rang sie nach Atem, als sie sich an den Ausdruck von Entsetzen, von regelrechtem Abscheu über den Verrat erinnerte, kurz bevor die Drahtkreatur ihn in den Fluss geschleudert hatte.
    Töte den Wirt , hatte er geschrien.
    Aber sie hatte es nicht gekonnt. Es war Pen . Sie konnte nicht –
    Oder doch?
    Tauben fielen über sie her, drängten sie mit Flügeln und Krallen zurück.
    »Glas!«, protestierte sie.
    »Weg von ihm.« Beth konnte kein Gesicht erkennen, doch die Stimme klang entschieden und wütend. Ein Gewimmel von Käfern stückelte aus herumliegendem Müll ein Paar Beine zusammen.
    »Aber ich muss ihm helfen … «
    Unvermittelt zuckte die Clownsmaske zwischen den wirbelnden Taubenflügeln hervor. »Wenn du mich weiter störst und er deswegen stirbt, reiße ich dir deine Augäpfel aus dem Schädel. Hast du das kapiert, kleines Mädchen? Das Beste, was du für ihn tun kannst, ist, mir aus dem Weg zu gehen. Sofort .«
    Beth erstarrte. Mit zusammengebissenen Zähnen funkelte sie Gossenglas an, dann drehte sie sich um und wankte zurück, den Hügel hinunter.
    Eine ganze Weile lang, so kam es ihr vor, schleppte sie sich im Dunkeln durch die wabernden Dunstschwaden. Pen! Der Gedanke hallte in ihrem Kopf wie das Kreischen einer Sirene. Panik setzte ihre Muskeln in Gang, und sie rannte den Hang einer Abfalldüne hinauf, Richtung leuchtende Stadt, Richtung Pen, mit schwingenden Armen. Sie hatte nur noch das Bild ihrer besten Freundin vor Augen, gefesselt und blutig geschlagen von Stacheldraht.
    Doch dann strichen Beths Fingerspitzen übereinander und sie fühlte den dünnen, rauen Schorf über den Wunden, die dieser Stacheldraht hinterlassen hatte. Taumelnd blieb sie stehen. Sie hatte ihre Chance gehabt, Pen zu helfen, ihre Chance, sie zu befreien , und sie hatte versagt. Was, wenn sie erneut versagte? Was, wenn nichts weiter geschehen würde, als dass Pen gezwungen war zuzusehen, wie das Drahtmonster ihre Hände dazu benutzte, ihrer besten Freundin den Kehlkopf zu zerquetschen?
    Gossenglas’ Stimme kam ihr in den Sinn. Glaubst du wirklich, sie würde mit dir nicht dasselbe machen?
    Beth ließ den Blick über die Deponie schweifen, schaute dorthin, wo Fil lag, blutend, zitternd, kaum atmend, inmitten von Dreck und Müll. Dahin hatte sie ihn gebracht.
    »Ist das dein Plan? Weglaufen?« Ihr Hohn von damals klang für sie jetzt nur noch hohl; sie wünschte, sie könnte diese Worte mit einem Atemzug wieder zurücknehmen. Sie wünschte, sie hätte zugelassen, dass er sich in Sicherheit brachte.
    Sie hatte ihn schikaniert und verhöhnt und hierhergelockt, genau so, wie sie es mit Pen gemacht hatte, indem sie ihr dieses selbstgefällige Rätsel über den »gebrochenen Akkord« auf die Backsteine ihres Hauses gekritzelt hatte.
    So bin ich: wie der Sirenengesang zur Selbstzerstörung.
    Es fühlte sich an, als strömte lauwarmer zäher Beton ihr in Glieder und Eingeweide. Mutlos ließ sie sich in den Müll sinken. Sie konnte es nicht reparieren. Sie hatte alles kaputt gemacht und konnte es nicht reparieren. Sie spürte nicht einmal mehr die Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
    Alles, was sie getan hatte – alles, was in ihrer Macht stand – war, alles noch schlimmer zu machen.
    Herrgott, Fil, bitte stirb nicht.
    Kleine Fetzen von Papier und Pappe und

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