Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Statuen Begrabenen. Es war die größte Massenbestattung seit Jahrzehnten.
Und dann, um vier Uhr, zur Stunde des Steins, der wahren Geisterstunde, begannen die Bordsteinpriester zu singen. Petris war der Erste, und jeder Bruder und jede Schwester fiel mit ein, sogar Ezechiel, der in verächtlichem Abstand über ihnen seine Kreise zog.
Die Hymne der Bordsteinpriester schallte durch die Straßen ganz Londons, so rein wie der Klang eines Glockenspiels und so tief wie eine bittere Winternacht, schallte hinweg über das Dröhnen von Londons Motoren, und alle, die sie hörten, hielten inne und lauschten. Ohne es zu ahnen, wahrten die Menschen auf den Straßen einen Moment der Stille für die Gefallenen.
Der Text ihres Liedes war einfach: Unter der Haut, vom Steinbruch geschenkt und verwaschen vom Regen, soll ein Stück unsres Menschseins noch leben. Das Lied war ein Gebet, dass diese Stücke wieder ein heiles Ganzes würden, dass die menschlichste aller Eigenschaften ihren gefallenen Geschwistern zurückgegeben werde, jene Eigenschaft, die es ihnen erlaubte, zu sterben. Sie beteten darum, dass ihre Statuen nicht länger Strafhäute, sondern schlichte Gräber sein mögen.
Natürlich richtete dieses Gebet sich an Mater Viae. Nur sie konnte ihre Schuld als beglichen betrachten und die Tode der Priester von den ölgetränkten Händlern zurückkaufen, denen sie sie überlassen hatte.
Die Ironie, dass sie zu einer Göttin beteten, die sie schon abgelehnt hatten, als sie noch in den Ruinen ihres Tempels standen, brachte Petris beinahe zum Lächeln. Aber das hier war eine Trauerfeier, und sie war die einzige Göttin, die sie hatten. Zum wem sonst sollten sie beten? Wie Johnny Naphtha einmal auf seine dämliche Art vor sich hin gelispelt hatte: Begräbnisssfeiern und Hochzeitsssfessste zwingen den Zweifler zu falschem Zeugnisss .
Das Lied ging zu Ende, und Petris beschloss die Zeremonie mit dem Verstreuen von Backsteinstaub zu Füßen der Toten. Die Soldaten trugen ihre Narben mit sich zurück in die Nacht. Ezechiel schlug den beschwerlichen Weg Richtung Norden ein. Sie hatten Verwundete zu versorgen und mit glorreich wehenden Fahnen einen Krieg gegen Reach zu verlieren.
Doch der Großteil blieb. Wie Petris hatten sie jener Göttin den Rücken gekehrt, die sie versklavt hatte. Als er sich von den Gräbern abwandte und davonging, hoffte Petris, dass keiner von ihnen sich als ebenso großer Feigling empfand, wie er es tat. Die meisten waren bereits nach wenigen Schritten in ihren Rüstungen in einen erschöpften Schlummer gefallen, aber Petris konnte nicht schlafen. Ein Schmerz in der Brust hielt ihn wach, ein quälender Wunsch danach, bei den Soldaten zu sein, an ihrer Seite zu kämpfen, zu spüren, wie die Poren seiner steinernen Hülle sich mit Blut vollsogen. Das war es, wofür er wieder und wieder geboren wurde: um ein Soldat zu sein. Es war so lange her, dass es Schlachten zu schlagen gegeben hatte.
Aber zu kämpfen hieße, für sie zu kämpfen, und die Männer und Frauen, für die er sprach, waren so voller Zorn, dass sie das nicht hinnehmen konnten. Er kratzte an seinem Daumen, schabte winzige Splitter aus dem Stein: nur ein flüchtiger Akt der Rebellion.
Die Gemeißelten Doktrinen besagten, dass man keine Schmerzen leide bei einem Tod in Mater Viaes Diensten: Ein solcher Tod begleiche sofort ihre Schuld und erkaufe ihnen die Erlösung. Petris trauerte nicht um die Toten, sondern um sich selbst, obwohl er das nie, nicht mal in tausend Jahren zugeben würde. Die Tode seiner Schäfchen machten seine eigene Gefangenschaft als Hirte nur umso einsamer.
Also tat er, was alle religiösen Menschen tun, wenn sie einsam sind. Leise, um die anderen nicht zu stören, begann er zu beten.
Kapitel 38
»Ich muss zurück!« schrie sie, doch die Tauben nahmen keine Notiz von ihr. Die Windstöße ihrer Flügelschläge trommelten ihr ins Gesicht. Weit unten flackerte London vorüber. Sie wand sich und strampelte, aber die Krallen packten sie nur noch fester.
»Ich muss zurück!« Ihr Gebrüll klang irrsinnig, sogar für ihre eigenen Ohren. Ein einziger Gedanke erfüllte sie bis zum Bersten und übernahm die Gewalt über ihre Stimme. »Das war Pen! Das war Pen! Ich muss zurück!«
Eine Clownsmaske aus Plastik baumelte plötzlich an einer der Taubenkrallen. Das Ding wirbelte herum und sah sie an. »Halt die Klappe.«
»Sie ist meine Freundin .«
»Sie ist ihr Wirt .« Würmer verzerrten die Lippen der Maske zu einer Grimasse. Die
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